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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Realkatalogs der Preußischen Staatsbibliothek, 1933, darunter Ernst Honigmann (ganz rechts, stehend).

© Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Jüdische Bibliothekare in Berlin: Neun Stolpersteine Unter den Linden

Die Staatsbibliothek zu Berlin hat Schicksale ihrer seit 1933 willfährig entlassenen Mitarbeitenden recherchiert. Jetzt erhalten sie Stolpersteine auf dem Boulevard Unter den Linden.

Emmy Friedlaender wurde am 1. November 1880 in Berlin geboren.

Am 28. Oktober 1944 deportiert, wurde Emmy Friedlaender noch im selben Jahr in Auschwitz ermordet.

Diese Sätze rahmen die kurze Biografie, die am kommenden Sonnabend vor der Staatsbibliothek zu Berlin verlesen wird. Emmy Friedlaender war dort seit 1929 in der Einbandstelle und in der Leihstelle tätig und wurde zum 31. Oktober 1933 als Jüdin entlassen.

Jetzt soll ihrer und zunächst acht weiterer ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Preußischen Staatsbibliothek, die im nationalsozialistischen Deutschland ausgegrenzt, verfolgt und in zwei Fällen ermordet wurden, erstmals öffentlich gedacht werden. Für Friedlaender und ihre Kolleg:innen werden am 8. Oktober Stolpersteine vor der Lindenhalle, dem Entree der Staatsbibliothek vom Boulevard Unter den Linden aus, verlegt.

„Die Steine werden uns einmal mehr darauf hinweisen, welche Barbarei auf die Blütezeit deutsch-jüdischer Kultur- und Wissenschaftsförderung folgte und wie dünn der Firnis der Zivilisation sein kann“, erklärt Generaldirektor Achim Bonte, der seit einem Jahr im Amt ist. Mit der Verlegung der Stolpersteine stärke die Staatsbibliothek ihr öffentliches Gedenken an die Opfer des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte.

Warum gedenkt die Staatsbibliothek erst jetzt, auf Initiative Bontes, ihrer verfolgten jüdischen Mitarbeitenden? „Wir haben nicht bei Null angefangen“, sagt Martin Hollender, Literaturhistoriker und langjähriger Referent der Generaldirektion. Einzelschicksalen aus der Zeit von 1933 bis 1945 hatte sich schon der Bibliothekshistoriker Werner Schochow angenommen. Er war im West-Berliner Haus der Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße tätig und stieg nach seiner Pensionierung 1989 in die Archive.

An seine Arbeiten konnte zu Beginn dieses Jahres der ehemalige Studienrat Michael Wolff aus Bernau anknüpfen. Er bot sich der Staatsbibliothek als Ehrenamtler an – und übernahm es, die nahezu komplett erhaltenen Personalakten der 1933 im Haus Tätigen auf Entlassungen im selben Jahr oder in den Folgejahren zu untersuchen. Von der 279-köpfigen Mitarbeiterschaft waren demnach bis zu zwölf Personen von den menschenverachtenden Verfügungen des NS-Regimes betroffen.

Flucht Belgien, Deportation nach Südfrankreich

Einer von ihnen ist der Byzantinist Ernst Honigmann (Jahrgang 1892), der 1931 von der Breslauer Universitätsbibliothek an die Staatsbibliothek zu Berlin wechselte. Er wird zwei Jahre später auf der Grundlage des antijüdischen Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen.

Er emigriert nach Belgien, findet eine Anstellung an der Freien Universität Brüssel, wird 1940 von den deutschen Besatzern verhaftet und nach Südfrankreich deportiert. Honigmann entkommt, wird aber erneut zur Deportation gezwungen, diesmal in die USA. Er kehrt 1946 nach Brüssel zurück, erhält eine Professur und stirbt dort 1954.

Ernst Honigmann ist im Foto, das über diesem Artikel steht, ganz rechts stehend zu sehen. Dieses Gruppenfoto von Mitarbeitern der Preußischen Staatsbibliothek im Jahr 1925 zeigt den Orientalisten Walter Gottschalk (Dritter von links).
Ernst Honigmann ist im Foto, das über diesem Artikel steht, ganz rechts stehend zu sehen. Dieses Gruppenfoto von Mitarbeitern der Preußischen Staatsbibliothek im Jahr 1925 zeigt den Orientalisten Walter Gottschalk (Dritter von links).

© Staatsbibliothek zu Berlin – PK

Bis 1935 blieb der Orientalist Walter Gottschalk (Jahrgang 1891) im Dienst der Staatsbibliothek, wo er den umfangreichen Katalog der orientalistischen Handbibliothek verfasste. Entlassen wird Gottschalk auf Grundlage der rassistischen „Nürnberger Gesetze“ und flieht über die Niederlande und Belgien in die Türkei.

In Istanbul wirkt er am Aufbau der Universitätsbibliotheken mit und wird 1949 auf die erste Professur für Bibliothekswissenschaften berufen. Gottschalk, dessen zwei Geschwister im Holocaust ermordet werden, überlebt und wohnt ab 1954 in Frankfurt am Main.

Ich wusste bisher nur, dass es Entlassungen und Verfolgungen gab, kannte zwei, drei Namen. Aber jetzt treten uns die Schicksale plastisch vor Augen.

Martin Hollender, Literaturhistoriker und Bibliothekar

Von den Biografien seiner früheren Bibliothekskollegen zeigt sich Martin Hollender, der die Lebensläufe für ein Faltblatt und eine künftige Internetseite verfasste und Bildmaterial recherchierte, tief bewegt. „Ich wusste bisher nur, dass es Entlassungen und Verfolgungen gab, kannte zwei, drei Namen. Aber jetzt treten uns die Schicksale plastisch vor Augen.“

Dabei sei es dem Team um Generaldirektor Bonte auch darum gegangen, an frühere Mitarbeitende aus dem nicht-wissenschaftlichen Bibliotheksdienst zu erinnern – wie Emmy Friedlaender.

Eine Freitreppe, die von einem ornamentierten Gewölbe überspannt ist, führt in das Foyer eines Lesesaals einer Bibliothek.
Das historische Hauptgebäude der Staatsbibliothek zu Berlin wurde unlängst prachtvoll saniert. Erinnert werden soll aber auch an die Schattenseiten ihrer Geschichte.

© SPK/Thomas Koehler/photothek.net

Am Anfang einer glänzenden Bibliothekskarriere stand Annelise Modrze, eine promovierte Klassische Philologin, die Ende 1931 in Breslau und Berlin eine Ausbildung zur wissenschaftlichen Bibliothekarin beginnt. In der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek arbeitet und publiziert sie so erfolgreich, dass eine dauerhafte Anstellung sicher scheint.

Die Prüfung als Anwärterin für den höheren Dienst legt sie im September 1933 mit Auszeichnung ab, weiß aber schon, dass sie trotz ihrer evangelischen Religionszugehörigkeit im Nationalsozialismus chancenlos ist.

Ein Bibliotheksdirektor, der die Bücherverbrennung verharmlost

Von Widerstand gegen diese Berufsverbote konnte keine Rede sein, sagt Hollender. Hugo Andres Krüß, Generaldirektor seit 1925, „war auf Staatslinie, setzte um, was angeordnet war“. Gegenüber der New Yorker Staatszeitung etwa verharmlost er im Oktober 1933 die parallel zu den Entlassungen stattfindenden Bücherverbrennungen auf dem Berliner Bebelplatz.

Seit 2015 erinnern zehn von Gunter Demnig (links) verlegte Stolpersteine vor dem Bundestag an die jüdischen Mieter, die einst am Schiffbauerdamm 29 lebten.
Seit 2015 erinnern zehn von Gunter Demnig (links) verlegte Stolpersteine vor dem Bundestag an die jüdischen Mieter, die einst am Schiffbauerdamm 29 lebten.

© Achim Melde/Bundestag

Annelise Modrze emigriert wie auch ihr Bruder nach England, katalogisiert Handschriften im Corpus Christi College in Oxford, kehrt 1935 aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurück und erliegt ein Jahr später vermutlich der Tuberkulose. Ihre Eltern werden nach Theresienstadt deportiert, die Mutter kommt dort um, der Vater überlebt und stirbt vereinsamt 1951 in Karlsruhe.

Zu den Holocaust-Opfern der Staatsbibliothek gehört Artur Spanier (Jahrgang 1889), Fachreferent in der Orientalischen Abteilung. 1935 zwangspensioniert, emigriert er 1939 nach Amsterdam. Spanier wird nach gescheiterten Versuchen, in den USA aufgenommen zu werden, 1942 nach Westerbork und in der Folge nach Bergen Belsen deportiert, wo er Ende März 1945 wahrscheinlich an Entkräftung stirbt.

Verlegt werden die Stolpersteine von dem Künstler Gunter Demnig. Seit 1996 bettet er die von ihm gestalteten Gedenkzeichen – Pflastersteine aus Beton mit einer gravierten Messingplatte auf der Oberseite – in die Gehwege vor den letzten selbstgewählten Wohnorten ein. Die handgefertigten Steine kosten jeweils 120 Euro.

Nur ausnahmsweise werden Stolpersteine auch vor Institutionen angebracht, wie jetzt vor der Lindenhalle der Staatsbibliothek und zuvor bereits vor der benachbarten Humboldt-Universität. Doch die Recherchen werden fortgesetzt, um einige wenige Biografien weiterer Mitarbeitender zu vervollständigen und auch ihnen Stolpersteine zu setzen, sagt Martin Hollender.

Man wolle zudem alle Berliner Wohnorte der jüdischen NS-Opfer identifizieren und der Kollegen und Kolleginnen von einst auch dort gedenken.

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