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Professor Jürgen Kocka beim Forum der Historischen Kommission der SPD in Berlin.

© imago/Reiner Zensen

Jürgen Kocka zum 80. Geburtstag: Der Historiker der industriellen Welt

Soziale Marktwirtschaft? Jürgen Kocka schreibt lieber über den Kapitalismus - und die Bedeutung von Arbeit und Beruf. Ein Porträt des Historikers zum 80.

Vom „Kapitalismus“ redete man in der bundesdeutschen Nachkriegszeit nicht mehr. Als Jürgen Kocka sich in den 1960er Jahren mit ihm zu beschäftigen begann, war er zur „Sozialen Marktwirtschaft“ domestiziert. Davon hat sich Kocka nie beeindrucken lassen.

Beleuchtete schon seine 1968 vorgelegte Doktorarbeit das „Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung“ – wie ihr Untertitel in der Buchausgabe lautete –, so scheute er sich wenig später nicht, die „Klassengesellschaft im Kriege“ schon im Titel seiner Untersuchung zu benennen.

Gemeint war der Erste Weltkrieg, mit dem das bekanntlich „lange“ 19. Jahrhundert endete; jenes Jahrhundert, dem das Forschungsinteresse des promovierten Historikers fortan am stärksten zuteil wurde. Der Kurzlehrgang in Gestalt der nur 130 Textseiten von Band 13 des renommierten Gebhardt-Handbuchs der deutschen Geschichte über eben jenes Jahrhundert, wird sich an Dichte und Prägnanz schwerlich überbieten lassen.

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Als jung berufener Professor in Bielefeld ab 1973 begründete er mit Hans-Ulrich Wehler die „Bielefelder Schule“ einer historischen Sozialwissenschaft. Zu der von seinem Lehrer und Mentor Gerhard A. Ritter angestoßenen „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland“ steuerte Jürgen Kocka gleich drei Bände bei.

Marx und Weber als Leitsterne

Für sie blieb der Begriff der „Klasse“ konstitutiv – freilich mit der Perspektivverschiebung, die „Entstehung einer sozialen Klasse“ auch aus „Arbeiterleben und Arbeiterkultur“ herzuleiten, wie der 2015 erschienene Nachzügler dieser Reihe im Titel ankündigt.

Kocka blieb stets offen für Anregungen über enge Fachgrenzen hinaus, die ihn, der Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft studiert hat, ohnehin nicht einengten. Und eine Prise Philosophie war im Studium in Berlin auch dabei, bei Dieter Henrich, was zu seiner ersten Veröffentlichung führte, einem methodologischen Vergleich von Karl Marx und Max Weber: Das hatte seit Karl Löwith 1932 keiner mehr versucht, und auch Kockas Aufsatz hat die Zeiten konkurrenzlos überdauert.

[Lesen Sie auch ein soeben erschienenes Interview mit Jürgen Kocka zum deutschen Kaiserreich: "Ein Nationalstaat, der tiefste Brüche überlebt hat"]

Jürgen Kocka würde es vermutlich ablehnen, sein Gelehrtenleben unter die Leitsterne Marx und Weber gestellt zu sehen. Gleichwohl springt ins Auge, wie viel er beiden sowohl verdankt als auch zurückgegeben hat. Denn die Forschungen zur Herausbildung der Arbeiterklasse und parallel zu der des Bürgertums unterfüttern Marxens Klassentheorie ebenso, wie sie in ihrer Bildung von Idealtypen – Arbeiter, Bürgertum, Klasse und Schicht – der Strenge Webers verpflichtet sind.

Der Hendry-Ford-Bau der Freien Universität, im Vordergrund eine moderne Skulptur.
1988 wechselte Jürgen Kocka von der Universität Bielefeld an die Freie Universität Berlin.

© imago images/Jürgen Ritter

1988 wechselte Kocka an die Freie Universität Berlin, wo ein Lehrstuhl für die Geschichte der industriellen Welt schon im Titel auf ihn zugeschnitten war. Nach der Wiedervereinigung nahm die Zahl seiner Mitgliedschaften und Leitungsämter nur noch weiter zu; so war er in Potsdam am Aufbau des Zentrums für Zeithistorische Forschung beteiligt.

In der Rolle des Public Intellectual

2001 übernahm er für sechs Jahre die Leitung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), das bis dahin Sozialforschern reserviert war. Er blieb dort zwei weitere Jahre mit einer Forschungsprofessur für Historische Sozialwissenschaften, seinem Kerngebiet.

Dass er 1992 mit dem Leibniz-Preis die höchstdotierte deutsche Wissenschaftsauszeichnung erhielt, zwischendurch im Vorstand des weltweiten Historikerverbandes amtierte und ein paar Jahre als Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften waltete, gibt einen Eindruck von dem Arbeitspensum, das er, dessen Untersuchungen oft um den Begriff der (Berufs-)Arbeit zentriert sind, sich selbst abzuverlangen bereit war und ist.

Mitarbeitende des WZB genießen die Mittagspause bei Sonne im grünen Innenhof.
2001 übernahm Jürgen Kocka für sechs Jahre die Leitung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB).

© Doris Spiekermann-Klaas

Bei so viel protestantischer Ethik drängt sich erneut der Gedanke an Weber auf, der das „Fachmenschentum“ als unausweichliches Schicksal des Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet hat. Es versteht sich, dass Kocka sich als public intellectual in Diskussionen über Zustand und Zukunft der Berufsarbeit geäußert hat – und skeptisch über der Idee eines arbeitsfreien Grundeinkommens.

[Zur Rolle der Wissenschaft in der Klimakrise hat sich Jürgen Kocka in einer Tagesspiegel-Debatte geäußert: Forscher, werdet nicht zu Propagandisten! Auf seinen Beitrag reagiert hat unter anderem WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger: Sagt was, Kollegen]

Der Kapitalismus ist die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“ (Weber) geblieben, seit dem Ende des kommunistischen Gegenentwurfs mehr denn je. Eine kurz gefasste „Geschichte des Kapitalismus“, eingestreut zwischen umfangreiche Forschungsarbeiten, ging Kocka wie selbstverständlich von der Hand.

Stets hat er auf die funktionale Verwandtschaft, aber nicht zwingende Zusammengehörigkeit von Demokratie und Kapitalismus hingewiesen und betont: „Seine Reform ist eine Daueraufgabe.“ Als Wissenschaftler hat er unablässig Material bereitgestellt, um diese Daueraufgabe in vernunftgegründeter Weise anzugehen.

„In unseren indirekten Wirkungen können wir doch recht nützlich sein für eine gute Entwicklung der Gesellschaft“, hat sich Kocka zum Abschied aus dem Direktorat des Wissenschaftszentrums bescheinigt. Ein Blick auf sein ellenlanges Schriftenverzeichnis kann das nur unterstreichen. Heute feiert Jürgen Kocka, im Kriegsjahr 1941 im böhmischen Haindorf, dem heute tschechischen Hejnice, geboren, seinen 80. Geburtstag.

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