zum Hauptinhalt
Menschenauflauf während des Boykotts am Tauentzien in Berlin vor dem Schuhhaus Leiser, dessen Eigentümer jüdisch war. Im Fenster hängen Plakate „Kauft nicht bei Juden“.

© bpk

"Kauft nicht bei Juden": Als die Judenverfolgung begann

Am 1. April 1933 boykottierten die Nazis jüdische Geschäfte. Zwar missbilligten viele die Aktion - doch jüdische Deutsche erlebten den Boykott als den Zusammenbruch von Sicherheit. Einer aber versuchte, die Stigmata ins Gegenteil zu verkehren.

„Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ So hieß es klipp und klar im Programm der NSDAP von 1920. Aus ihrer antisemitischen Politik hatte die Partei nie ein Hehl gemacht.

Schon vor 1933 waren Juden Ziel gewalttätiger Attacken, gerade in Berlin, wo mit rund 160 000 jüdischgläubigen Menschen die größte Gemeinde in Deutschland existierte. Für die Berliner SA-Stürme war es üblich, am Sonntag zum Kurfürstendamm zu fahren, um dort Passanten zu belästigen oder zu verprügeln. So ereigneten sich dort am Abend des jüdischen Neujahrstages, am 12. September 1931, blutige Ausschreitungen. Etwa tausend SA-Männer marschierten auf, brüllten Parolen wie „Deutschland erwache, Juda verrecke“ oder „Schlagt die Juden tot“ und schlugen Menschen, die „jüdisch“ aussahen, brutal zusammen.

Den „Sieg der nationalen Revolution“ 1933 feierte die SA auf ihre Weise. Erneut kam es nach den Reichstagswahlen vom 5. März auf dem Berliner Kurfürstendamm zu gewalttätigen Verfolgungsjagden. Der Deutschlandkorrespondent des „Manchester Guardian“ berichtete: „Viele Juden wurden von den Braunhemden geschlagen, bis ihnen das Blut über Kopf und Gesicht strömte. Viele brachen ohnmächtig zusammen und wurden in den Straßen liegen gelassen, bis sie von Freunden oder Passanten aufgehoben und ins Krankenhaus gebracht wurden.“

Am 9. März marodierte die SA im Scheunenviertel, das vorwiegend von osteuropäischen jüdischen Migranten bewohnt war. Den jüdischen SPD-Bürgermeister von Kreuzberg, Carl Herz, zerrten SA-Männer am 10. März aus dem Rathaus, schlugen ihn blutig und schleppten ihn durch den Stadtteil. Einen Tag später stürmten SA-Trupps das Urban-Krankenhaus und trieben mit Gewalt sämtliche jüdischen Ärzte aus dem Gebäude. Schon Mitte Februar hatte die Berliner Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ die „artfremden Juden“ öffentlich als „Wanzen“ bezeichnet und die „schärfste Ausräucherung des betroffenen Raumes“ gefordert.

Julius Lippert, neu ernannter „Staatskommissar“ für Berlin mit unbeschränkten Vollmachten und vormals Chefredakteur des antisemitischen Hetzblatts „Der Angriff“, sorgte sogleich dafür, dass Juden und politisch Unliebsame aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurden und ließ Listen zur „Ausschaltung jüdischer Lieferanten“ aufstellen. Auch die Bezirksämter begannen bereits im März, jüdische Ärzte zu entlassen und die jüdischen Lehrerinnen und Lehrer an städtischen Schulen mit sofortiger Wirkung zu „beurlauben“. Am 28. März besetzte die SA das Berliner Ärztehaus und zwang die jüdischen Vorstandsmitglieder der Ärztekammer zum Rücktritt.

Für die deutschen „Volksgenossen“ eröffneten sich damit ungeahnte Karrieremöglichkeiten. Von den über tausend Ärzten, die in den Berliner Krankenhäusern und der staatlichen Gesundheitspflege 1933 beschäftigt waren, wurden nahezu die Hälfte aus antisemitischen und politischen Gründen entlassen. Dies bedeutete zugleich, dass nun zahlreiche neue Stellen für junge Ärzte und Ärztinnen zu besetzen waren, die sich zuvor kaum eine Chance ausrechnen konnten, in den öffentlichen Dienst zu kommen.

Um dem Druck von unten zu entsprechen, beschloss die NS-Führung einen Boykott jüdischer Geschäfte, der am 1. April 1933 beginnen sollte. Öffentlich legitimiert wurde der Boykott als „Abwehr gegen ausländische Gräuelpropanda“, also gegen die Kritik, die sich vor allem in den USA gegen die antisemitischen Verfolgungen in Deutschland regte. Der Boykott müsse, hieß es im Aufruf der NSDAP, „bis in das kleinste Bauerndorf hinein zu tragen werden, um besonders auf dem flachen Lande die jüdischen Händler zu treffen“.

Überall in Deutschland standen am Samstag, dem 1. April, SA-Posten vor Geschäften mit jüdischen Inhabern. Obwohl die Regimeführung immer wieder betonte, dass die Boykottaktion mit Ruhe und Disziplin vonstatten gehen solle, brach die Gewalt an etlichen Orten auf.

In Berlin konzentrierte sich der Boykott auf die Innenstadt. „Beinahe alle Geschäfte zwischen dem Wittenberg-Platz und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, zu beiden Seiten der Tauentzienstraße tragen große und kleine Boykott-Plakate“, schrieb der „Berliner Börsen-Courier“. SA-Trupps beschmierten die Schaufensterscheiben mit Davidsternen und antisemitischen Parolen. Ein Amerikaner, berichtete die „Times“, der versucht hatte, das Kaufhaus Wertheim in der Rosenthaler Straße zu betreten, wurden von den SA-Posten zurückgestoßen und als „verdammter Hundekopf“ beschimpft. Einem anderen Korrespondenten wurde gleichfalls mit Gewalt der Eintritt in ein jüdisches Drogeriegeschäft verwehrt. Nur fest entschlossene Kunden gelangten an diesem Tag in die Läden und Cafés Unter den Linden und am Kurfürstendamm. Um die boykottierten Geschäfte sammelten sich große Menschenmengen, die lebhaft miteinander diskutieren. Keineswegs traf der Boykott auf einhellige Zustimmung.

Victor Klemperer fühlte sich ins Mittelalter versetzt

Außenpolitisch war der Boykott ein Fehlschlag, weil er den Eindruck von den Judenverfolgungen in Deutschland bestätigte. Und auch innenpolitisch erwies er sich als wenig erfolgreich, weil offenkundig zahlreiche Deutsche die Aktion missbilligten, zumal ja auch nicht-jüdische Angestellte in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Doch darf die öffentliche Markierung als „jüdisches Geschäft“ nicht unterschätzt werden. Erst jetzt sehe man, so der „Steglitzer Anzeiger“, „wie viele jüdische Geschäfte es auch in Steglitz gibt“. Die staatliche öffentliche Anprangerung bedeutete für viele jüdische Kaufleute einen tiefen, beschämenden wie empörenden Einschnitt im Alltag, der von nun an nicht mehr „normal“ sein würde.

Wenige Tage nach dem Boykott nutzte die Hitler-Regierung die ihr durch das Ermächtigungsgesetz verliehene Kompetenz, um mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April sogenannte Nicht-Arier – es genügte, wenn ein Großelternteil jüdischer Religion war – aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen.

Zugleich wurde die Betätigung jüdischer Rechtsanwälte eingeschränkt und zwei Wochen später ein Numerus clausus für jüdische Studenten eingeführt. Vertreter der Deutschen Studentenschaft schlugen an der Friedrich-Wilhelms-Universität zwölf Thesen „Wider den undeutschen Geist“ an, darunter: „Unser gefährlichster Widersacher ist der Jude und der, der ihm hörig ist“ oder „Der Jude kann nur jüdisch denken, schreibt er deutsch, lügt er.“ Am 10. Mai brannten die Bücher.

Für viele deutsche Juden bedeutete der Boykott am 1. April eine tiefe, erschütternde Erfahrung. Sie erleben den Zusammenbruch von Sicherheit und der bisher selbstverständlichen Gewissheit, in einer zivilisierten Gesellschaft zu leben. Victor Klemperer fühlte sich ins Mittelalter versetzt: „Ich habe mich wahrhaftig immer als Deutscher gefühlt“, notierte er in seinem Tagebuch. „Und ich habe mir immer eingebildet: 20. Jahrhundert und Mitteleuropa sei etwas anderes als 14. Jahrhundert und Rumänien. Irrtum.“ Nun aber war die Barbarei im eigenen Land aufgebrochen. Nicht fremde Barbaren waren von außen über Deutschland hergefallen, sondern die barbarischen Kräfte entstammten unübersehbar der deutschen Gesellschaft selbst.

Der Berliner Journalist und engagierte Zionist Robert Weltsch warb in einem später immer wieder zitierten Artikel in der „Jüdischen Rundschau“ vom 4. April 1933 dafür, die Verfolgung und Entehrung in Selbstbewusstsein zu wenden. Unter der Überschrift „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ schrieb er:

„Das deutsche Judentum hat am 1. April eine Lehre empfangen, die viel tiefer geht, als selbst seine erbitterten und heute triumphierenden Gegner annehmen. Von Haus zu Haus gingen die Trupps, beklebten Geschäfte und Schilder, bemalten die Fensterscheiben, 24 Stunden lang waren die deutschen Juden gewissermaßen an den Pranger gestellt. Neben anderen Zeichen und Inschriften sah man auf den Scheiben der Schaufenster vielfach einen großen Mogen David, den Schild König Davids. Dies sollte eine Entehrung sein. Juden, nehmt ihn auf, den Davidsschild, und tragt ihn in Ehren!“

Weltsch und viele andere konnten nicht ahnen, welche mörderische Verfolgung ihrer noch harrte. Doch immer wieder setzten sich Juden zur Wehr, taten alles, um ihre Würde zu bewahren. Es sei ein „Wort des Trotzes gewesen, das uns heute zu hohl und pathetisch klingt“, sagte nach dem Krieg Robert Weltsch, der 1938 nach Palästina emigriert war und den Holocaust überlebt hatte. „Aber damals gab es dem tiefen Bedürfnis Ausdruck, sich in der Erniedrigung zu behaupten.“

- Der Autor ist Professor für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Michael Wildt

Zur Startseite