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Hilfe im Seelentief. Bei depressiven Menschen entscheidet oft der Zufall, ob sie an den richtigen Psychotherapeuten geraten.

© IMAGO

Versorgungsforschung: Kranken besser helfen

Angehäuftes Fachwissen und Wirklichkeit klaffen im medizinischen Alltag allzu oft auseinander - egal ob es um eine Psychotherapie, Operationen oder die Versorgung mit den richtigen Medikamenten geht.

Patienten können nicht sicher sein, nach dem Stand des medizinischen Wissens behandelt zu werden. Das zeigen Beispiele aus dem Alltag der Gesundheitsversorgung, etwa bei der Zuckerkrankheit, dem Rückenschmerz, der Herzschwäche, der Arzneiversorgung im Alter oder der Anwendung von Herzkathetern. Kritisch untersucht wird all dies im „Versorgungs-Report 2013/2014“ des wissenschaftlichen Instituts der AOK (Schattauer Verlag, 346 Seiten, 54 ,99 Euro).

Im Zentrum steht die Depression, eine Krankheit, an der in Deutschland fünfeinhalb Millionen Menschen leiden. „Die Krankheit ist nach Auffassung der Weltgesundheitsorganisation gut behandelbar, aber die meisten depressiven Menschen erhalten nicht die Therapie, die sie benötigen“, liest man im Report. Die Erkenntnisse über Nutzen und Risiken der Antidepressiva würden oft nicht berücksichtigt. Vor allem würden die Mittel meist nicht lange genug verordnet. Etwa 60 Prozent der Patienten brauchen sie länger als 24 Wochen. Aber nur 22 Prozent bekommen sie so lange.

Noch kritischer wird die Psychotherapie beurteilt. Es bleibe oft dem Zufall überlassen, nach welcher der konkurrierenden Methoden depressive Menschen behandelt werden: „Psychotherapeuten wenden die von ihnen erlernten Verfahren an, ob es Nutzenbelege für das jeweilige Krankheitsbild gibt oder nicht.“ Patienten, nicht nur mit Depression, würden besser versorgt, wenn man sie über ihre Krankheiten und deren Therapiemöglichkeiten gründlicher informieren und sie stärker einbeziehen würde.

Wer als Patient gut geschult ist, kann selbst Komplikationen gegensteuern

Das gilt auch für den Kreuzschmerz und die häufigste Form der Zuckerkrankheit, den Typ-2-Diabetes. Ob Diabetiker angemessen geschult werden, wie empfohlen, ist ungewiss. Das richtige Wissen könnte sie befähigen, selbst das Entscheidende gegen ihre Krankheit zu tun oder Komplikationen zu vermeiden. Aber ein Drittel von ihnen leidet an Folgekrankheiten wie Nieren-, Augen-, Nervenleiden oder dem diabetischen Fuß-Syndrom, das sogar zur Amputation führen kann.

Auch bei der Arzneimittelversorgung im Alter klaffen Soll und Ist, wissenschaftliche Erkenntnis und Alltagswirklichkeit, gefährlich auseinander. Zwar existiert schon seit 1991 in den USA eine Liste von Wirkstoffen, die ältere Menschen nicht oder nur nach sorgfältigem Abwägen nehmen sollten. Aber sie ist nicht exakt auf Deutschland übertragbar. Deshalb wurde seit 2010 die deutsche „Priscus-Liste“ entwickelt. Sie soll die Nutzen-Risiko-Bewertung des Arztes nicht ersetzen, aber erleichtern.

Im Alter kommt es eher zu Arzneimittelschäden, weil die Funktion von Leber und Nieren nachlässt und die Substanzen langsamer abgebaut werden. Dadurch kann es zu Überdosierungen und zu Wechselwirkungen verschiedener Medikamente kommen – über 65-Jährige bekommen durchschnittlich fünf Arzneimittel gleichzeitig.

Dosierung und Art der Wirkstoffe müssen auf das Alter der Patienten abgestimmt sein

Trotz aller Warnungen wurde 2012 noch jedem vierten über 65-Jährigen mindestens einer der für Ältere riskanten Wirkstoffe verordnet; beispielsweise eines jener Schlaf- und Beruhigungsmittel, die einen schlaftrunkenen Senioren leicht stolpern, schwanken und stürzen lassen. Häufige Folgen: Oberschenkelhalsbruch, Pflegeheim.

All dies sind abgesicherte Befunde. Versorgungsforschung ist laut Bundesärztekammer „die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen.“ Dieses letzte Wort ist entscheidend. Grundlagenforschung muss sein, klinische Forschung auch. Aber selbst diese ist durch die künstliche Versuchsanordnung in Studien dem Patientenalltag recht fern.

Lange wurde kaum gefragt, was von all den medizinischen Erkenntnissen und Errungenschaften beim Patienten ankommt, wo zu viel, zu wenig oder falsch behandelt wird. Seit einigen Jahren aber sprechen Ärzte und Pflegende sogar offen über die eigenen Fehler, damit alle daraus lernen können. „Die Chancen für die Gesundheit, die in einer durchgängigen Fehlervermeidung liegen, übersteigen bei Weitem die zusätzlichen gesundheitlichen Chancen vieler neuer Therapieverfahren“, heißt es zum Beispiel im „Krankenhaus-Report 2014“.

Die Zahl der Mandeloperationen schwankt von Region zu Region

In den USA wurde schon vor mehr als 40 Jahren ein Instrument der Versorgungsforschung entwickelt: der Vergleich von Behandlungszahlen in verschiedenen Regionen. Sie wichen unerwartet und medizinisch unerklärlich stark voneinander ab. Zum Beispiel schwankte die Rate der Mandeloperationen in Regionen des Bundesstaates Vermont im Jahre 1970 zwischen 13 und 151 Eingriffen pro 10 000 Kinder. In Deutschland fand man noch 2013 ähnlich große Unterschiede.

In der Bundesrepublik gibt es nicht nur eine Unterversorgung, besonders auf dem Land. Sondern auch eine Überversorgung mit Diagnostik und Therapie, vor allem in Ballungsgebieten, und eine Fehlversorgung.

33 Fachgesellschaften gehören zum „Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung“. Besonders aktiv sind die Chirurgen. Die Versorgungsforscher könnten ihnen helfen, die Langzeitergebnisse von Eingriffen zu ermitteln, hieß es auf dem diesjährigen Chirurgenkongress in Berlin. Auch die Bundesärztekammer macht sich für den neuen Forschungszweig stark. Deutschland beginnt also, seinen Rückstand aufzuholen. Zum Glück für die Patienten.

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