
Diverse Studierende an der HU Berlin: Mit den Jüngsten staunen, von Älteren lernen
An der Humboldt-Universität studieren Unter-18-Jährige zusammen mit berufserfahrenen Quereinsteigern.
„Gleich nach dem Abi mit dem Studium anzufangen, war vollkommen idiotisch“, sagt Maxime. Zusammen mit seiner Kommilitonin Johanna sitzt er auf einer Bank im Innenhof des HU-Hauptgebäudes und genießt die letzten Regungen des Sommers, während die im Akkord von den Bäumen fallenden Kastanien bereits vom nahen Beginn des Wintersemesters zeugen.
Inzwischen ist Maxime 22 Jahre alt und Student der Sozialwissenschaften im dritten Semester. Eigentlich wäre er mit seinem Studium wohl schon fertig oder wenigstens auf der Zielgeraden. Vorzeitig eingeschult, nahm der gebürtige Zehlendorfer bereits mit 18 Jahren ein Studium auf, merkte dann aber, dass es einfach noch zu früh für ihn war. „Ich habe ziemlich bald abgebrochen, nicht nur wegen des Inhalts, sondern weil mir schlichtweg der nötige Ernst fehlte.“ Sein erster Anlauf ist für Maxime Geschichte, welches Fach er „schmiss“, ist für ihn heute kein Thema mehr. Nachdem er etwas Zeit mit Arbeiten, Reisen und Nachdenken verbracht hat, sah er jedenfalls klarer – und begeistert sich für sozialwissenschaftliche Fragestellungen.
Keine Frage, die Uni verjüngt sich. Spätestens seit mancherorts das Abitur auf 12 Jahre verkürzt wurde, schreiben sich auch vermehrt minderjährige Studienanfänger an deutschen Universitäten ein. Jochen Ley, der das Studierenden-Service-Center an der HU-Berlin leitet, schätzt, dass fünf bis zehn Prozent der Neuimmatrikulierten an der Humboldt-Universität unter 18 Jahren sind.
Das klingt zwar nicht so, als wäre der Campus bald ein Teenager-Spielplatz – die Studierenden, die im herbstlichen Innenhof neben ihren abgegessenen Mensatabletts sitzen, wollen den Verjüngungstrend aber auf jeden Fall bemerkt haben. Alles in allem finden sie die Entwicklung eher bedenklich. „Überleg doch mal“, sagt Maxime, „ein 17-Jähriger mit Hochschulreife kommt mit seinem Erziehungsberechtigten hier vorbei, um sich einzuschreiben. Reife, hallo?! Da stimmt doch was nicht.“
Auf jeden Fall, findet Johanna, wirke es sich negativ auf das Diskussionsniveau aus, wenn die Leute noch in den Kinderschuhen steckten. Und Maxime fügt sozialkritisch an, das verkürzte Abitur und die Bachelorisierung seien doch nur deshalb eingeführt worden, „um das System zügiger mit Produktivkräften zu versorgen“.
Regula ist 21, studiert im sechsten Semester VWL. Sie kam nach 12 Jahren Schule mit der Schweizer Matura-Prüfung nach Berlin – und sieht es zumindest für sich selber anders. Wer wie sie schon immer irgendwie gewusst habe, in welche Richtung es beruflich gehen solle, sei gut beraten, gleich nach der Schule zu studieren, sagt Regula. Gerade in den Wirtschaftswissenschaften seien aber viele dabei, die der Stoff eigentlich nicht interessiere und die VWL nur wegen der Karrierechancen studierten. Und besonders den ganz Jungen gehe es häufig nicht wirklich ums Studieren, sondern um das sture Akkumulieren von Credit Points. „Viele von denen, die frisch von der Schule kommen, erwarten außerdem, dass sie von der Uni alles vorgekaut bekommen, Selbstständigkeit ist da oft noch nicht vorhanden.“
Jochen Ley begegnet den sehr jungen Studierenden mit mehr Verständnis als ihre – kaum älteren – Kommilitonen. Sicher, sie kämen häufig mit der Erwartungshaltung, die Uni müsse ihnen den Stundenplan vorgeben, ihnen sagen, wo sie hin müssen, ihnen erklären, wie man eine Wohnung findet. Das könne und wolle eine Uni natürlich nicht leisten, sagt Ley. Aber das Studierenden-Service-Center bietet mittlerweile durchaus Infoveranstaltungen zu Bafög und Wohnen in Berlin an. Der Schwerpunkt des Beratungsangebots liegt allerdings auf Hilfe zur Selbsthilfe.
Grundsätzlich seien die Bedürfnisse der Studierenden, egal welcher Altersstufe, ohnehin nicht so verschieden, meint Ley. „Eine Grundtendenz zur Verunsicherung ist bei Studienanfängern generell gegeben.“ Zu den Grundsätzen der HU-Studierendenberatung gehöre es außerdem, die Minderjährigen nicht als eigenständige Kategorie zu behandeln. Als Lehrender in den Seminaren würde man ohnehin nicht bemerken, ob jemand nun 17 oder 21 sei, sagt Ley, der selber unterrichtet. „Natürlich denkt man als Dozent in einem Seminar voller Erstis hin und wieder: Oh Mann, sind die jung! Wobei ich nicht sicher sagen kann, ob die Studierenden immer jünger oder ob ich selbst immer älter werde.“ Insgesamt sei der Umstand, dass man mit den Gepflogenheiten des sozialen Feldes Universität noch nicht hinreichend vertraut sei, eher eine Frage des studierten Semesters als des biologischen Alters. Ein spezielles Beratungsangebot für Minderjährige oder ganz junge Studierende sei deshalb auch nicht vorgesehen. Unabhängig vom Alter beim Abitur würde Ley aber allen, die an die Uni wollen, raten, nach der Schule ein Jahr lang etwas anderes zu machen. „Damit man ein bisschen die Welt kennenlernen und sich darüber klar werden kann, was man eigentlich will.“
Menschen, die vor ihrem Studium bereits etwas anderes gemacht haben, sind indes keine Seltenheit mehr an der HU. Neben den ganz Jungen finden inzwischen auch immer mehr ältere Studierende ihren Weg an die Hochschule. Zum einen viele Pensionäre, die, wie Jochen Ley sagt, meist als Gasthörer überwiegend in den Fächern Geschichte und Sozialwissenschaften und zudem in den klassischen Philologien sitzen. Zum anderen aber auch zunehmend Leute verschiedenster Altersstufen, die schon eine Ausbildung hinter sich und eine Weile gearbeitet haben, und erst dann das akademische Feld betreten. Mehr als 400 beruflich Qualifizierte sind derzeit an der Humboldt-Universität immatrikuliert.
Einer dieser Quereinsteiger ist Richard Herbstler. Nach dem Hauptschulabschluss machte er eine Ausbildung zum Koch und war dann mehrere Jahre in den Küchen verschiedener Hotels tätig. Nach einer Phase der Selbstständigkeit ging er zur Hotelfachschule. Dort erfuhr er, dass es ihm nach Paragraf 11 des Berliner Hochschulgesetzes möglich ist, sich auch ohne Abitur an der Uni zu bewerben. Inzwischen studiert Richard Herbstler im sechsten Semester Wirtschaftspädagogik und Informatik auf Lehramt.
Eine Hürde seien die formalen mathematischen Anforderungen gewesen. „Die musste ich mir autodidaktisch aneignen“, sagt Herbstler, „da fehlten mir einfach die Grundlagen.“ Nach anfänglichen Problemen groovte er sich aber allmählich in den Unibetrieb ein und fühlt sich heute als Student wohler als jemals zuvor, wie er sagt.
Studierende mit Berufserfahrung und ohne Abitur seien in der Anfangsphase häufig von Selbstzweifeln geplagt, sagt Jochen Ley. „Viele stellen sich die Frage, ob sie aufgrund des fehlenden Abiturs oder des zum Teil fortgeschrittenen Alters mit der Uni-Welt klar kommen. Unsere Aufgabe ist es, zu beruhigen.“ In den ersten zwei Semestern müssten ohnehin alle erst einmal lernen, wie ein Studium überhaupt funktioniert.
Regula, die angehende Volkswirtin, meint, in ihrem Studiengang gebe es viele, die vorher schon etwas anderes gemacht hätten. Etliche dieser Kommilitoninnen und Kommilitonen hätten am Anfang Schwierigkeiten gehabt, sich dann aber doch zügig eingewöhnt. Von den älteren Studenten könne man auch einiges lernen, sagt Regula, die brächten Lebenserfahrung mit und ließen einen auf Themen blicken, die man selbst nicht im Blick gehabt habe. „Die Altersspanne bringt verschiedenste Menschen aus verschiedensten Lebensbereichen zusammen, das ist doch großartig.“
Gerade in der Wirtschaftspädagogik seien viele so wie er über Umwege an die Uni gekommen, sagt Herbstler. Die bunte Mischung aus Jungen und Alten, aus „Traditionellen“ und Quereinsteigern empfindet auch der 37-Jährige als Gewinn. „Mich hat das auf jeden Fall verjüngt und die Frischlinge von der Schule sehen, dass man auch andere Wege gehen kann.“
Auf jeden Fall kann es sinnvoll ein, sich mit seinen Entwürfen Zeit zu lassen, anstatt kopfüber durch die eigene Biografie zu stolpern. Und trotz seiner Kritik an der verkürzten Schulzeit und den Folgen der Bologna-Reform, findet auch der angehende Sozialwissenschaftler Maxime, dass Altersdiversität grundsätzlich eine Bereicherung bedeutet.
- Dieser Text erschien in der Beilage "Humboldt-Universität 2015".