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Berliner Monument. Gegründet wurde die mittelalterliche Quellensammlung 1819 vom Reichsfreiherrn vom Stein in Berlin. Eine der vier Skulpturen auf dem Sockel seines Denkmals vor dem Abgeordnetenhaus ist den Monumenta Germaniae Historica gewidmet.Foto: Imago

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Monumenta Germaniae Historica: Das Gedächtnis der Nation ist bedroht

Die deutsche Geschichtsschreibung wurzelt in den Quellen der Monumenta Germaniae Historica. Jetzt wird um sie gerungen. Dem Land Bayern wird vorgeworfen, der MGH Geld und Unabhängigkeit zu nehmen.

Es gibt wissenschaftliche Elfenbeintürme, bei denen nicht in Jahren gerechnet und geplant wird, sondern in Jahrzehnten, wenn nicht in Jahrhunderten. Die Monumenta Germaniae Historica (MGH) sind ein solches Projekt. Seit 1819 entsteht unter ihrem Dach eine umfassende Sammlung mittelalterlicher Quellentexte zur europäischen Geschichte, betreut von Dutzenden Wissenschaftlern, verteilt auf Arbeitsstellen im gesamten deutschsprachigen Raum. Ein Großprojekt mit weltweit exzellentem Ruf. Über 300 Bände sind erschienen, darin Gesetzestexte, Briefe, Chroniken, Staatsdokumente aus der Zeit von 500 bis 1500 n. Chr. Die aktuellen Bände tragen Titel wie: „Dokumente zur Geschichte des deutschen Reiches und seiner Verfassung. 1336–1339“ oder „Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 875–911“ (hier geht es zu den "digitalen Monumenta").

Nach bald 200 Jahren, in denen „die Monumenta“ historische Umbrüche bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zur deutschen Teilung überlebt haben, aber ist das gewachsene Gefüge brüchig geworden. Lange galt der Freistaat Bayern als großzügiger Sachwalter des einst in Berlin begründeten Projekts, in dem das kulturelle Gedächtnis Deutschlands und Europas wurzelt. Doch seit einem Jahrzehnt stagniert der Etat, Stellen wurden zunehmend zögerlicher besetzt und gar gesperrt, die organisatorische Eigenständigkeit der Monumenta infrage gestellt. Mit Wirkung zum 31. März hat nun die MHG-Präsidentin, Claudia Märtl, ihr Amt im Protest und mit öffentlich artikulierter Frustration niedergelegt.

Die Berliner Arbeitsstelle ist mit vier Mitarbeitern die zweitgrößte

So imposant das Vorhaben, so klein ist das Team, das diese Editionsaufgabe in „jahrelanger stiller Gelehrtenarbeit“ umsetzt, wie der Historiker und Leiter der Berliner Arbeitsgruppe Michael Menzel sagt. In der Institutszentrale in München sind lediglich zehn Wissenschaftler beschäftigt; in Berlin, der zweitgrößten Unterabteilung, arbeiten vier Mediävisten an den nächsten Bänden der MGH. Andere Forscher sitzen in Wien, Leipzig, Düsseldorf, Heidelberg, Göttingen. Verankert sind sie an den jeweiligen Akademien der Wissenschaften, werden aus den jeweiligen Länderetats bezahlt. Inhaltlich verbunden sind sie über die gemeinsame Zentraldirektion, die wie eine Art Beirat funktioniert. Dieser wählt auch den MGH-Präsidenten, der wiederum in München sitzt. Eine komplexe dezentrale Struktur also, die sich in den letzten Jahrzehnten aber als sehr produktiv erwiesen hat.

Das bislang eigenständige Projekt soll der Bayerischen Akademie unterstellt werden

In Bayern aber, wo man die Monumenta Germaniae Historica nach dem Zweiten Weltkrieg unter die Fittiche der Landesregierung genommen hatte und die Zentrale mit jährlich rund 1,4 Millionen Euro finanziert, regt sich seit einiger Zeit Widerstand gegen die Organisationsform des renommierten Kooperationsprojekts. Heftiger Streit und personelle Verwerfungen waren die Folge – und jetzt der Rücktritt der Präsidentin Claudia Märtl. Zudem haben die Mitglieder der Zentraldirektion offene Briefe an die Politik geschrieben. „Man will die MGH-Zentrale der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unterstellen“, erklärt Menzel. Zwar solle das nicht mit inhaltlicher Einmischung verbunden sein. Aber die Politik verspricht sich von dem Schritt Einsparpotenziale. „Worum es der bayerischen Regierung im Wesentlichen geht, ist eine Verschlankung der Verwaltungsstrukturen. Die Eigenständigkeit der MGH soll dafür aufgehoben werden.“ Die Unabhängigkeit aber sei dringend nötig, um den Wissenschaftsbetrieb weiterhin auf hohem Niveau und frei von externen Verwaltungszwängen fortzusetzen, meinen die betroffenen Wissenschaftler.

Die politischen Querelen um die Monumenta Germaniae Historica sind kein Einzelfall. Der Trend geht zur Eingliederung und Zusammenlegung. „Die bayerische Staatsregierung will die Wissenschaftslandschaft außerhalb der Universitäten umbauen“, sagt Michael Borgolte, Historiker an der Humboldt-Universität und Mitglied der Zentraldirektion der MGH. „Es geht darum, kleine Institute wie die MGH aus ihrer Selbstständigkeit zu drängen.“ Die Präsidentenstelle der MGH, so hatte die Landesregierung unter anderem vorgeschlagen, könne doch auch an einen Lehrstuhl der Münchner Universität gekoppelt werden.

In Berlin sieht man solche Vorschläge mehr als kritisch. „Man kann nicht von München aus dirigieren, wie Mediävistik zu funktionieren hat“, sagt Michael Menzel. „Und Bayern kann sich auch nicht im Alleingang über nationale und internationale Forschungsinteressen hinwegsetzen.“ Die Sparzwänge würden seitens der Politik vorgeschoben, um strukturelle Veränderungen zu erzwingen. Der Etat der MGH-Zentrale in München stagniert seit Jahren, eine Anpassung an Tariferhöhungen hat nicht stattgefunden. Es wurde sogar ein Einstellungsstopp verhängt. Mittlerweile sind knapp zwei wissenschaftliche Vollzeitstellen unbesetzt. Soll demnächst jede Etat- oder Personalentscheidung bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften beantragt werden müssen? Und welches Mitspracherecht hätte die Ludwig-Maximilians-Universität bei der Benennung des Präsidenten?

Pläne, die Monumenta durch den Bund zu finanzieren, sind versandet

Hinter verschlossenen Türen sind ganz andere Vorschläge aufgetaucht. Die Monumenta Germaniae Historica hatten bis 1945 ihren Sitz in Berlin. Dass sie allerdings mit ihrer Zentrale hierher zurückkehren und vom Land Berlin getragen werden, halten weder Menzel noch Borgolte für realistisch. Die Kassen der Hauptstadt sind leer. „Man könnte sich aber vorstellen, dass die deutschen Akademien die MGH tragen – oder noch besser: die Bundesrepublik Deutschland“, meint Borgolte.

Darüber gab es erste Gespräche mit der damaligen Wissenschaftsministerin Annette Schavan. Sie blieben allerdings ohne Ergebnis. Zwar geht es bei der MGH, gemessen an anderen Forschungsetats, finanziell nur um Peanuts. „Aber es ist eine grundsätzliche Entscheidung, ob die Bundesregierung solche nationalen Institutionen direkt über den Haushalt des Wissenschaftsministeriums finanzieren und verwalten will. Das scheint derzeit nicht der Fall zu sein“, sagt Borgolte.

"Abwiegelnde Sprachwahl": Die Marken sollen erhalten bleiben

Wie es stattdessen mit der renommierten Quellensammlung weitergeht, wird sich wohl doch in München entscheiden müssen. Es gibt erste Hinweise, dass das Land Bayern nach dem öffentlichen Druck der letzten Tage teilweise einlenken und zumindest die Wahl eines neuen Präsidenten akzeptieren und die nötigen Gelder dafür bereitstellen wird. Grund zum Optimismus sieht die zurückgetretene Präsidentin Claudia Märtl dennoch nicht. „Der stagnierende Etat, die unbesetzten Stellen und der Sparzwang allgemein bleiben erhalten.“ Das Ministerium übe außerdem weiter Druck aus, „wenn auch jetzt in etwas anderer Form.“ Von Kooperationen mit anderen Instituten ist die Rede, von „virtuellen Holdings“, bei denen die einzelnen „Marken“ erhalten bleiben sollen. „Diese Sprachwahl ist neuerdings typisch“, sagt Märtl. „Sie dient der Abwiegelung, aber nach meinen Erfahrungen ist sie keineswegs beruhigend.“ Die Machtprobe zwischen Politik und Wissenschaft um die Eigenständigkeit der Monumenta Germaniae Historica ist noch lange nicht vorbei.

Organisationsstrukturen stammen teilweise aus dem 19. Jahrhundert

Auch intern stehen dem Projekt weitere Auseinandersetzungen bevor. „Es gibt durchaus Reformbedarf“, betont Michael Borgolte. Die Organisationsstrukturen stammen teilweise noch aus dem 19. Jahrhundert. Es sei zum Beispiel überhaupt nicht mehr zeitgemäß, „dass der Präsident, der von der Zentraldirektion gewählt wird, diese dann auch leitet“. Die Aufsichtsfunktion müsse vom operativen Geschäft getrennt werden. Mitarbeiterrechte müssten festgeschrieben werden. „Ich glaube, dass die MGH einen großen Fehler gemacht haben, weil sie sich zu wenig reformbereit gezeigt haben.“

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