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Moderne Waldorf-Architektur. Hier in der Stuttgarter Schule Uhlandshöhe, der ältesten in Deutschland.

© Sebastian Gollnow/dpa

Nicht nur fürs Bildungsbürgertum: Wie Waldorfschulen um ein neues Image ringen

Elitär, esoterisch, rassistisch? Die Waldorfschulen feiern ihren 100. Geburtstag. Trotz vieler Vorurteile und Vorwürfe sind sie beliebt wie nie.

Ganz egal, in welches Klassenzimmer man auch schaut – das Bild ist bunt. Fatih, Kamala, Kenzo, Shams, Aurélie oder Max heißen die Kinder. Gleich am Eingang des Schulgebäudes in Oberschöneweide hängen, über eine Korktafel gespannt, goldene Buchstaben, die dazu einladen, einen muslimischen Festtag gemeinsam zu begehen. Kann das wirklich eine Waldorfschule sein?

Diese Schulklassen kann es streng genommen nicht geben. Jedenfalls dann nicht, wenn man nach dem Image der Waldorfschulen geht. Sie feiern gerade ihren 100. Geburtstag – und gelten als eine Bastion des Bürgertums. Wer seine Kinder an einer Waldorfschule anmeldet, der hat zu 70 Prozent Abitur und legt großen Wert auf musische und künstlerische Bildung. Das Bildungsbürgertum trifft sich gerne bei den Anthroposophen, auch um sicherzugehen, dort unter sich zu bleiben.

Die interkulturelle Waldorfschule in Berlin-Oberschöneweide interpretiert das nun neu: möglichst offen zu sein für alle Kulturen. „Bildung sollte jeder Menschenseele zuteil werden“, sagt eine Lehrerin. „Man weiß ja nicht, wo der nächste Einstein herkommt.“ Also hat die Hälfte der Waldorfschüler in Oberschöneweide Migrationshintergrund. Vorbild war die interkulturelle Waldorfschule in Mannheim.

Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfschulen, hat indes noch nicht ausgedient. Direkt in Berührung kommen die Schüler mit seinen Lehrsätzen aber nicht: Anthroposophie steht nicht auf dem Lehrplan. Es sind vielmehr seine Prinzipien, die zählen. Steiner begriff das Kind als geistiges Wesen, das eine Wiedergeburt erfahren hat. Aufgabe des Lehrers sei es herauszulesen, was das Kind an Fähigkeiten und Anlagen mitbringt. Jede Schulstunde, so gebietet es Steiner, soll ein Kunstwerk sein. Zu diesem Zweck müssen alle Lehrer in die waldorfeigene Lehrerbildung, um ihren Steiner zu verinnerlichen. Im Klassenzimmer wird Steiner durch musische Bildung verwirklicht, auch durch Bewegung. Ebenso spielt Goethes Farbenlehre eine große Rolle.

Bei Waldorfs geht Lernen ganz anders

An der Wand der zweiten Klasse in Oberschöneweide stechen gelbe Malblätter ins Auge, beinahe grelle große Farbflächen wie bei Gauguin. In der Mitte glüht ein roter Feuerball. Jedes Kind hat ihn anders gemalt. Von der Längsseite des Klassenzimmers leuchtet ein gutes Dutzend roter Sonnen über den Kindern. Das sieht stark aus. Gerade weil der rechtwinklig zusammengesteckte Beton des Plattenbaus so gar nichts von den fließenden Formen etwa der ersten Waldorfschule in Stuttgart hat, der Uhlandshöhe, wo unlängst der erste große Festakt der Waldorfbewegung stattfand. An diesem Donnerstag nun kommt die Bewegung nach Berlin – zum „internationalen Jubiläumsfest Waldorf 100“.

Die Steinersche Ideologie steckt nicht nur tiefer im Alltag der Waldorfschulen. Auch in der Mitte der Gesellschaft finden sich seine Gedanken etwa von der Dreiteilung in Körper, Geist und Seele wieder – eine Erklärung für die Beliebtheit der Waldorfschulen. Steiners Erbe wirkt sich aber auch politisch aus: Als die deutsche Mittelschicht gegen das achtjährige Gymnasium mobil machte, tat sie es mit dem Argument, das G8 sei geist- und seelenlos.

Tanzen gerade nicht: Schülerinnen und Schüler der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in einem Klassenzimmer.
Tanzen gerade nicht: Schülerinnen und Schüler der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in einem Klassenzimmer.

© Sebastian Gollnow/dpa

Bei Waldorfs geht Lernen tatsächlich ganz anders. Dort führt die Dreiteilungsidee nicht etwa zu einer Auslese der Schüler in drei Schularten – Waldorfschulen sind Gesamtschulen –, sondern sie wird didaktisch gewendet. Kinder sollen die Lerngegenstände im Wortsinne erst begreifen, dann intellektuell erfassen und später vielleicht sogar spüren. Aber auch Waldörfler ändern sich. Die moderne Waldorfschule lehnt Computer nicht mehr völlig ab. Der Bund der Waldorfschulen fordert allerdings nicht nur einen Digitalpakt, sondern dazu einen „Analogpakt“ – damit Grundschüler zunächst sicher lesen, schreiben, rechnen und Bewegung lernen. In Befragungen gibt es eine überwältigende Zustimmung für diesen Kurs: 73 Prozent der Deutschen sagen einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Waldorfbewegung zufolge, dass Tablets erst ab der fünften Klasse oder später eingesetzt werden sollten.

Die Eltern bezahlen im Schnitt 190 Euro pro Monat

Die Waldorfschulen erleben, wie alle Privatschulen, seit der Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte. Es gibt heute 245 Waldorfschulen in Deutschland, damit hat sich ihre Zahl seit 1990 verdoppelt. Im Ranking der Freien Schulen liegen die Waldörfler auf Platz drei hinter den katholischen und evangelischen Schulen. Zusammen machen sie rund 80 Prozent aller Privatschulen aus.

In den Steinerschulen bezahlen die Eltern im Durchschnitt 190 Euro Schulgeld im Monat. Wer das nicht schafft, kann sich jederzeit auf einen selbst bestimmten Mindestbetrag heruntersetzen lassen. Jede der Waldorfschulen, die jeweils autonom sind, handhabt das Schulgeld ein bisschen anders – aber die Selbst-Ermäßigung gibt es immer.

Ein Grund für die Anziehungskraft der Schulen liegt sicher auch darin, dass die Eltern den in Verruf geratenen Staatsschulen teilweise davonlaufen. 53 Prozent der Bürger würden ihre Kinder auf Privatschulen schicken, wenn Schulkosten und Schulwege die gleichen wie bei der staatlichen Schule wären.

In der Fachwelt besteht kein Zweifel, dass Steiner Rassist war

Dennoch halten sich zwei Klischees felsenfest. Das eine besteht in der Reduktion der Waldorfpädagogik darauf, dass diese Schulen etwas Okkultes haben, mit Schülern, die ihren Namen tanzen. Das andere, schlimmere, besagt, dass bei Waldorfs durch die Lehren Steiners eine Art struktureller Rassismus herrsche. Im Jahr 2000 kam ein Buch, das Waldorflehrkräften auf einer Liste empfohlen wurde – Ernst Uehlis „Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst“ –, ins Visier der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: Es enthalte rassistische Aussagen. Der Waldorf-Bund wehrte sich zunächst vehement. Aber sowohl die Zitate aus dem Buch als auch die Reaktion des Schulverbunds führten zu einem Aufschrei.

Der Erfinder der Waldorfpädagogik hat in der Tat sehr merkwürdige Sätze geschrieben, etwa über nordamerikanische Ureinwohner: „Nicht etwa deshalb, weil es den Europäern gefallen hat, ist die indianische Bevölkerung ausgestorben, sondern weil die indianische Bevölkerung die Kräfte erwerben musste, die sie zum Aussterben führten.“

Das soll nach Steiner heißen: Die first nation ist nicht etwa gemeuchelt, vergiftet und ausgerottet worden, sondern sie war zum Ableben bestimmt. In der Fachwelt besteht kein Zweifel, dass Steiner Rassist war. Wahr ist aber auch, dass er unter den Reformpädagogen seiner Zeit noch der harmloseste war: Ellen Key war für Euthanasie, Gustav Wyneken ein verurteilter Pädokrimineller und Maria Montessori paktierte mit Mussolini.

Keine Noten, kein Sitzenbleiben

Die deutsche Öffentlichkeit war vom Uehli-Skandal zurecht schockiert. Sie nahm nicht hin, dass Schüler lesen sollten, der Keim zum Genie sei „der arischen Rasse bereits in ihre atlantische Wiege gelegt worden“. Schließlich zog der Waldorf-Verband Konsequenzen, strich Uehli von der Empfehlungsliste und distanzierte sich in aller Form. In der Folge öffnete der Verband seinen Vorstand für eine pragmatische Generation von Lehrern, denen Rudolf Steiner weniger wichtig ist als verlässliche Schulen, in denen guter Unterricht gemacht wird.

Auch Waldorfkritiker wie der Mainzer Erziehungswissenschaftler Heiner Ulrich sagen, dass Rassentheorien in der Waldorf-Pädagogik heute keine Rolle mehr spielen. In der Öffentlichkeit ist das ohnehin so gut wie kein Thema mehr. In einer Studie sagen 2000 repräsentativ Befragte, was ihnen an Waldorfschulen gefällt: keine Noten, kein Sitzenbleiben – sowie die freie Entfaltung der Schüler durch die Förderung kreativer und künstlerischer Fähigkeiten.

Das heißt aber nicht, dass Waldorfschulen heute keine Probleme mehr hätten. Ausgerechnet die interkulturelle Schule in Oberschöneweide, die sich bewusst für die Kinder von Migranten und Hartz-IV- Empfängern öffnet, steht in einem bitteren Streit. Das Land Berlin verweigert der Schule die üblichen Zuschüsse vor Ablauf der Wartezeit von fünf Jahren.

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