
© Naomi Ochwat
Unbekannter Mechanismus: Antarktischer Gletscher verschwand in Rekordtempo
Gletscher weltweit verlieren im Klimawandel an Masse, auch die Antarktis ist betroffen. Nun wurde dort ein rasanter Eisverlust beobachtet, „wie am Ende der Eiszeit“. Forschende präsentieren eine Erklärung.
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Als ein Forschungsteam Gletscher auf der antarktischen Halbinsel untersuchte, machte es eine unerwartete Entdeckung: Der Hektoria-Gletscher, einer der kleineren Eiskörper, die vom Festland zu Auslässen ins Meer fließen, war innerhalb von zwei Monaten zu großen Teilen verschwunden.
Das Team, das eigentlich das Verhalten von vor der Küste schwimmendem Eis untersuchen wollte, versuchte aufzuklären, warum sich dieser Gletscher so schnell zurückgezogen hatte. Wenn ihre Erkenntnisse zutreffen, könnte der gleiche Mechanismus weitere, auch größere Gletscher gefährden – und mit ihnen Küstenregionen weltweit.
Unter dem Eis
„Als wir Anfang 2024 über das Gebiet geflogen waren, konnte ich nicht glauben, wie groß die Fläche war, auf der der Gletscher kollabiert ist“, wird die leitende Autorin Naomi Ochwat in einer Mitteilung der University of Colorado Boulder zitiert.
Ein derart schneller Rückzug ändert, was für andere größere Gletscher auf dem Kontinent möglich erscheint.
Ted Scambos, University of Colorado Boulder
Der Hektoria-Gletscher nahm zuvor eine Fläche von etwa 300 Quadratkilometern ein. Das entspricht etwa einem Drittel der Fläche Berlins. Der Eiskörper ist jedoch schneller geschwunden als jeder andere in der modernen Geschichte. Die Geschwindigkeit sei nur mit ähnlichen Vorgängen am Ende der letzten Eiszeit vergleichbar, berichten die Forschenden. In nur zwei Monaten Ende des Jahres 2022 hat der Hektoria-Gletscher acht Kilometer Eis und damit etwa die Hälfte seiner Masse verloren.
Wie das Team um Ochwat jetzt in der Fachzeitschrift „Nature Geoscience“ berichtet, entspricht das etwa dem Zehnfachen der höchsten bisher beobachteten Gletscherschwund-Geschwindigkeit. Die Forschenden vermuten, dass das Eis nach einem noch weitgehend unbekannten Mechanismus verloren ging.
Entscheidend war wahrscheinlich die Struktur unter dem Eis: Der Hektoria-Gletscher reichte bis ins Meer. Das heißt, das Eis lag am Ende des Gletschers unter der Wasseroberfläche auf dem Meeresgrund auf. An Land erstreckt sich unter dem Eiskörper eine Ebene, die ebenfalls unterhalb des Meeresspiegels liegt.
Nachdem große Teile des auf dem Meer schwimmenden Schelfeises in der Mündungsregion des Gletschers abgebrochen waren, setzte der rapide Gletscherschwund ein. Der Hektoria-Gletscher floss deutlich schneller ab. Der Eiskörper wurde dadurch dünner, bis er so leicht wurde, dass er begann, auf einströmendem Wasser zu schwimmen. Danach brachen nun vermutlich viel schneller Teile ab, weil sich nun auch von unten Risse im Eis bildeten.
„Die größte Unsicherheit“
So ein extremer Fall sei in all den Jahren, seit der Eisfluss von der Antarktis ins Meer auch mit Satelliten gemessen wird, nie dokumentiert worden, sagte Martin Truffer vom Geophysikalischen Institut der University of Alaska, dem Science Media Center. Allerdings gebe es die Hinweise, dass sich ähnliche Prozesse bereits in der Vergangenheit abgespielt haben. „Es ist so gut wie sicher, dass es auch in der Zukunft wieder vorkommt“, sagt der Physiker.

© Naomi Ochwat
Das Abbrechen des Gletschereises, der Kalbungsprozess, wird von Computermodellen bislang nur schlecht erfasst. Truffer sieht darin „die größte Unsicherheit in Gletschermodellen, vor allem in der Antarktis“. Die neue Studie liefert nun wichtigen Input für neue Projektionen: „Je besser moderne Eismodelle diesen Prozess im Nachhinein modellieren können, desto besser können wir uns auf prognostische Modelle verlassen“, sagt Truffer.
Der Rückzug des Hektoria-Gletschers sei ein kleiner Schock, sagt Co-Autor Ted Scambos von der University of Colorado Boulder. „Ein derart schneller Rückzug ändert, was für andere größere Gletscher auf dem Kontinent möglich erscheint.“ Wenn sich in anderen Gebieten die gleichen Bedingungen einstellen, könnte dies den Anstieg des Meeresspiegels erheblich beschleunigen.
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