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Ein von einem Kind gezeichneter Comic zu Lebenslagen vor und nach dem Ausbruch der Pandemie - von "Party" bis zum einsamen Arbeiten am Computer.

© Coronarchiv/CC BY-SA 4.0

Universitäre Sammlung zur Pandemie: Ungewöhnlich alltägliche Bilder vom Leben mit Corona

Das „Coronarchiv“, eine Initiative der Public History an der Uni Hamburg, soll persönliche Erfahrungen aus der Pandemie für die historische Forschung erhalten.

„Ich wünschte, dass man Corona einfach mit den Fäusten ‚besiegen’ könnte“, schreibt Mia, eine Sechstklässlerin aus Nordrhein-Westfalen. In Linz bewirbt ein Restaurantaufsteller Glühwein, Most und Punsch als „Maria’s hausgemachter Impfstoff“. „Lügenvirus“ prangt auf grauen Pflastersteinen irgendwo in Spandau.

Fast 4000 solcher Erinnerungsstücke finden sich im „Coronarchiv“, einem Onlinearchiv zum Mitmachen. Seit dem 26. März ist das Kooperationsprojekt von Historikern der Unis Hamburg, Gießen und Bochum unter coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de online zugänglich.

„Das Coronarchiv soll Jedem und Jeder die Möglichkeit geben, ihre und seine Alltagsbeobachtungen in der Corona-Pandemie zu dokumentieren und zukünftigen Historikern und Historikerinnen zur Verfügung zu stellen“, erklärt Christian Bunnenberg. Der Historiker lehrt als Juniorprofessor für Geschichtsdidaktik und Public History an der Ruhr-Universität Bochum, mit drei Kollegen hat er das Projekt initiiert.

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Die Historiker sehen ihr Projekt als Ergänzung zu anderen Archiven, etwa von staatlichen Stellen oder Medien. Die Objekte im Coronarchiv bieten eine sehr persönliche Perspektive, auch soll das Projekt Quellen erhalten, die in gewöhnlichen Archiven selten überdauern: Graffiti, Aufschriften auf Schildern, Zettelaushänge in Schaufenstern.

Eine Frauenbüste in einem Schaufenster trägt einen Mund-Nasen-Schutz, daneben steht ein Schild mit der Aufschrift "Wieder geöffnet, wenn die Masken fallen".
In einer T-Shirt-Druckerei in Wyk auf Föhr wird schön abgewartet.

© Coronarchiv/CC BY-SA 4.0

„Für Historiker und Historikerinnen, die einmal zur Pandemie forschen werden, haben solche Quellen großen Wert“, meint Nils Steffen. Er ist Mitgründer einer Hamburger Geschichtsagentur, Koordinator des Arbeitsfelds Public History an der Universität Hamburg und hat das Coronarchiv ebenfalls mitinitiiert.

Eigene Erlebnisse im Coronarchiv einzustellen, dauert nur wenige Minuten. Ein Handybild, eine Textdatei oder eine Tonaufnahme, einige Metadaten wie Zeitpunkt und Ort und eine Mail-Adresse als Kontaktmöglichkeit genügen. „Wir wollen die Hürden, zum Coronarchiv beizutragen, möglichst niedrig halten“, sagt Bunnenberg.

Nach Qualität oder Relevanz wird nicht gesiebt

Wird ein Beitrag eingereicht, prüft ihn ein Mitglied des studentischen Moderationsteams. Die Studierenden sortieren Dokumente aus, die Persönlichkeits- oder Urheberrechte verletzen oder offensichtlich strafrechtlich relevant sind. Nach Qualität oder Relevanz sieben die Studierenden aber nicht. „Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, inhaltlich zu filtern“, betont Steffen.

Jede Stimme, jeder Eindruck zählt, so banal, unwichtig oder auch falsch sie bisweilen scheinen mag. „Auch ,Fake News’, Unwahrheiten und Verschwörungstheorien sind Formen, in denen die Corona-Pandemie wahrgenommen wird – und deshalb für die Forschung von Belang“, sagt Steffen.

[Auch der Sprachwandel in Zeiten der Pandemie wird wissenschaftlich beobachtet: Neusprech von Atemmaske bis Zoonose]

Hat das Moderationsteam einen Beitrag freigegeben, erscheint er im öffentlich zugänglichen Bereich des Coronarchivs. „Unsere studentischen Mitarbeitenden arbeiten derzeit neben der Administration hereinkommender Beiträge an einer weitergehenden Erfassung des Materials“, erklärt Bunnenberg. So würden die Objekte mit Schlagworten versehen und Kategorien zugeteilt: #HändeWaschen, #Lüften und #MaskenNähen seien etwa dem Thema Infektionsschutz zugeordnet.

Menschenleere Bahnsteige auf dem Hamburger Hauptbahnhof in einer Schwarz-Weiß-Aufnahme.
Auf dem Hamburger Hauptbahnhof war auch schon mal mehr los.

© Coronarchiv/CC BY-SA 4.0

Mit Kategorien und Metadaten lassen sich Zusammenhänge zwischen vielen Dokumenten schneller und leichter erfassen, das erleichtert zukünftige Forschung. Ebenfalls wichtig: Die Daten müssen in Formate überführt werden, die auch noch in Jahren und Jahrzehnten speicher-, les- und interpretierbar bleiben.

Nicht ganz einfach, wandelt sich Form und Format digitaler Daten doch ungleich schneller als traditionelle Archivmedien wie Papier und Pergament. „Zum Thema Langzeitarchivierung lassen wir uns von Expertinnen und Experten aus dem Archivwesen beraten“, sagt Bunnenberg. „Da sind wir aber noch mitten im Prozess.“

Formen der Bewältigung

Die höchste Beitragsrate verzeichnete das Projekt zu Anfang der Pandemie, zu Zeiten des ersten (Teil-)Lockdowns. „Das waren die inzwischen fast schon ikonischen Bilder: Leere Supermarktregale, Klopapier- und Mehlmangel“, erzählt Bunnenberg. In dieser Zeit hätten Beiträge oft Situationen der Einsamkeit und Trennung geschildert, Kindergeburtstage ohne Gäste etwa oder Risikogruppen, die sich aus Furcht vor Ansteckung abschotten müssen. Bald folgten Formen der Bewältigung: Kinder, die auf autoleeren Straßen spielen, große Kreidezeichnungen von Regenbögen auf dem Pflaster.

Auf einem Gehweg ist mir blauer Kreide geschrieben "Haltet durch und Habt euch lieb!" Daneben ist ein rotes Herz gemalt.
Botschaft auf einem Bürgersteig in Hamburg-Fuhlsbüttel.

© Coronarchiv/CC BY-SA 4.0

Als die ersten Lockerungen eintraten, habe das gegenwärtige Leben mit dem Virus tendenziell weniger interessiert, stattdessen sei weiterhin viel Material aus der Zeit des (Teil-)Lockdowns hochgeladen worden. Jetzt, in der zweiten Welle, dominiere aber wieder die unmittelbare Gegenwart: Verwaiste Plätze und Straßen, bange Blicke auf ein Weihnachtsfest, das anders ausfallen wird, als gewohnt.

Die Initiatoren des Coronarchivs sind Vertreter der Public History, einer recht jungen Unterdisziplin der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Die Public History beziehungsweise, in deutscher Übertragung, Angewandte Geschichtswissenschaft, beschäftigt sich mit der Schnittstelle zwischen akademischer Geschichtsforschung und Öffentlichkeit.

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„Einerseits analysieren Public Historians also, wie und warum unsere Gesellschaft über historische Vorgänge diskutiert“, erklärt Bunnenberg. „Andererseits versuchen wir, durch neue Formate und Formen der Publikumsinteraktion mehr Menschen außerhalb der Wissenschaft selbst zu erreichen – wie zum Beispiel mit dem Coronarchiv.“

Grundlage für künftige Bachelor- und Masterarbeiten

Das Archiv bindet die Öffentlichkeit unmittelbar in die Sammlungsarbeit ein, für die deutsche Geschichtswissenschaft ein innovatives Format. Die Initiatoren haben deshalb von der Universität Hamburg 50.000 Euro für ein weiterführendes CrowdsourcingLab eingeworben. Das Projekt soll ab Januar untersuchen, wie man Menschen bestmöglich zur Teilnahme an Crowd-Geschichtsprojekten motiviert kann. Die Ergebnisse sollen in die Kommunikation des Coronarchiv einfließen.

Auch erste klassisch-geschichtswissenschaftliche Auswertungen beginnen in Kürze, einige Anfragen für entsprechende Master- und Bachelorarbeiten haben die Initiatoren bereits erhalten. „Die größte Stärke des Coronarchivs ist die Aufzeichnung ganz unmittelbarer und unterschiedlicher Perspektiven, mit denen Menschen auf diese hochkomplexe und oft unwägbare Gegenwart reagieren“, meint Steffen.

Eine Frau hat sich und eine Kugel an ihrem Weihnachtsbaum mit Mund-Nasen-Schutz fotografiert.
Selfie mit maskierter Weihnachtsbaum-Kugel.

© Coronarchiv/CC BY-SA 4.0

Für Historiker und Historikerinnen der Zukunft böte das reiches Material für alltags- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen: Wie haben Menschen sich und ihren Alltag den immer neuen Verhältnissen angepasst? Wie unterscheiden sich die Erfahrungen verschiedener sozialer Gruppen, etwa von Kindern, von nicht-weiß gelesenen oder älteren Menschen? Wovor haben sich die Menschen zu verschiedenen Zeiten der Pandemie gefürchtet, was haben sie sich erhofft?

Hoffnung auf zweite große Welle an Beiträgen

Das ohnehin schon digitale Material böte sich auch für statistische oder allgemein computergestützte Untersuchungen an, meint Steffen. Welche Themen erscheinen zu welcher Zeit, lassen sich örtliche Schwerpunkte erkennen? Beiträge und Meta-Daten des Archivs stehen dafür unter Creative Commons-Lizenz zur Verfügung.

Bunnenberg und seine Kollegen wollen in Kürze selbst erste inhaltliche Ergebnisse präsentieren, im Sinne der Public History im Austausch mit der Öffentlichkeit: Kleine, kuratierte Ausstellungen auf der Website und dem Instagram-Kanal des Projekts sollen bald einen ersten thematischen Überblick über das bestehende Material geben.

Fokus der Initiatoren, die das Projekt neben ihrer universitären Dienstzeit organisieren, bleibt aber, möglichst viele Erinnerungen für zukünftige Forschung zu erhalten. Dafür sollen bestehende Barrieren, zum Coronarchiv beizutragen, sinken. Seit Mitte November steht die Plattform neben Deutsch und Englisch auch auf Portugiesisch und Spanisch zur Verfügung.

„Für die Zukunft wünschen wir uns noch andere Sprachen, etwa Türkisch oder Arabisch, um die Eindrücke weiterer Communities einzufangen“, sagt Steffen. „Derzeit fehlt uns dafür leider das Geld.“

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