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Eine Lehrerin erklärt einem Schüler an der Tafel eine Landkarte. Im Vordergrund sitzen ein weiterer Schüler mit dunkler Hautfarbe und eine Schülerin mit Kopftuch.

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Bildungsforscherin Stanat über Pisa 2012: "Warum sollte der positive Trend nicht fortgesetzt werden können?"

Am morgigen Dienstag wird die fünfte Pisa-Studie veröffentlicht. Dafür wurden 2012 in 65 Staaten weltweit 15-Jährige Schüler getestet. Bildungsforscherin Petra Stanat hält ein weiter verbessertes Abschneiden der Deutschen für realistisch.

Frau Stanat, nach dem Pisa-Schock im Jahr 2001 ging es mit Deutschlands Schülerleistungen immer etwas weiter bergauf. Dürfen wir Pisa 2012 also optimistisch entgegensehen?
Wir müssen die Ergebnisse abwarten. Aber Deutschland gehört zu den ganz wenigen Ländern, die sich zwischen Pisa 2000 und Pisa 2009 in allen Bereichen kontinuierlich verbessert haben. Auch die „Risikogruppe“ ist etwas kleiner geworden. Die Botschaft scheint also angekommen zu sein: „Wir müssen etwas tun!“ Natürlich ist es eine anspruchsvolle Aufgabe, auch jene Schüler zu erreichen, die zu Hause wenig unterstützt werden. Aber warum sollte der positive Trend nicht fortgesetzt werden können?

Bildungsforscherin Petra Stanat.
Petra Stanat, Berliner Bildungsforscherin und Pisa-Expertin.

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Was ist im Laufe einer Schülerkarriere versäumt worden, an deren Ende ein 15-Jähriger im Lesen nicht die Kompetenzstufe II erreicht?

Das beginnt damit, dass zu Hause wenig gelesen wird. In der Kita, die die meisten Kinder heute besuchen, ist dann nicht systematisch genug gefördert worden, um die Nachteile zu kompensieren. Anschließend wurde in der Schule offenbar im Unterricht übersehen, dass sich hier eine Leseschwäche anbahnt. Oder die Leseschwäche ist zwar erkannt worden, aber es wurde nicht angemessen reagiert. Es hängt stark von der einzelnen Lehrkraft ab, wie bei der Diagnose und Förderung vorgegangen wird. Vielleicht braucht man hier doch genauere Vorgaben und mehr Unterstützung für die Schulen.

Pisa-Forscher haben schon früh kritisiert, dass die Leseförderung in der Oberschule nicht fortgesetzt wird. Ändert sich das inzwischen?

Ja, das scheint mir einer der größten Erfolge von Pisa zu sein. Vor Pisa dachte man: In der Grundschule lernen die Kinder zu lesen und der Prozess ist damit abgeschlossen. Inzwischen ist allen klar: Auch manche Oberschüler haben Schwierigkeiten, Texte zu verstehen. Sie lesen sehr langsam und müssen so viel Konzentration auf das Dechiffrieren einzelner Wörter und Sätze aufwenden, dass sie den Sinn nicht verstehen. In solchen Fällen muss man die Leseflüssigkeit üben.

Wie zum Beispiel?

Zum Beispiel gibt es die Lautlese-Tandems, bei denen ein guter Leser und ein schwacher Leser einen Text gemeinsam, also gewissermaßen im Chor, halblaut vorlesen – der gute Leser nimmt dabei die Rolle des Tutors ein. Macht der schwache Leser einen Fehler, korrigiert ihn sein Mitschüler und sie lesen den Satz noch einmal vor. Wird das Lesen flüssiger, setzt der Tutor so lange aus, bis der nächste Fehler auftaucht. Solche und ähnliche Übungen haben sich als wirksam erwiesen, um die Voraussetzungen für verstehendes Lesen zu entwickeln.

Der Anteil von extrem schlechten Lesern ist bei den Jungen deutlich höher als bei den Mädchen. Was soll aber Leseförderung helfen, wenn Lesen nun einmal absolut nicht zum Rollenbild von männlichen Jugendlichen der bildungsfernen Schicht gehört?

Tja, solche Geschlechterstereotype schlagen leider immer wieder durch. Um die Lesekompetenz und das Leseinteresse zu fördern, sollte man die Schüler an der Textauswahl beteiligen. Vermutlich ist es für Jugendliche oft auch cooler, Texte am Computer zu lesen statt im Buch.

Guter Unterricht in schwierigen Schulen: "Lehrer dürfen diesen Anspruch nicht aufgeben"

Lehrer berichten, manche Schülerinnen und Schüler seien kaum ansprechbar –, weil sie sich in Zeiten des Smart-Phones kaum konzentrieren können oder ihre psychosozialen Probleme sie zu sehr beeinträchtigen. Was hilft dann der von den Pisa-Forschern geforderte gute Unterricht?

Natürlich ist es in manchen Schulen schwierig, guten Unterricht zu machen. Aber diesen Anspruch können Lehrer doch nicht aufgeben! In der Grundschule kann man die meisten Schüler erreichen, selbst wenn es bei einigen sicher nicht leicht ist. Und selbstverständlich muss man Schulen mit schwierigem Umfeld besser ausstatten, auch mit Sozialpädagogen, so wie es in Berlin ja auch geschieht. Die zusätzlichen Ressourcen müssen dann aber auch sinnvoll genutzt werden, damit sie sich auf die Lernentwicklung der Schüler auszuwirken.

Ein populäres Argument lautet, weil immer mehr bildungsferne Migranten nach Deutschland kommen, werde die „Risikogruppe“ nie in den Griff zu bekommen sein. Entspricht das der Lage?

Nein, die Zeiten der Zuwanderung ungelernter Arbeitnehmer ist weitgehend vorbei. Die meisten Schüler mit Migrationshintergrund sind hier geboren und aufgewachsen – die Schüler mit türkischen Wurzeln zu fast 90 Prozent. Sie machen übrigens auch insgesamt nur einen kleinen Teil der Schüler mit Migrationshintergrund aus, von den insgesamt 23 Prozent sind es ungefähr 15 Prozent. Diese Gruppe ist heterogener, als viele denken.

Warum tun sich viele Schüler mit türkischem Hintergrund besonders schwer?

Türkischstämmige Familien haben oft einen eher niedrigen sozio-ökonomischen Status, aber damit allein lässt sich der geringere Schulerfolg dieser Gruppe nicht erklären. Denn zugleich haben die Eltern sehr hohe Bildungsaspirationen. Sie wollen, dass ihre Kinder Abitur machen und studieren. Die Kinder berichten auch selbst, eine hohe Motivation zu haben. Möglicherweise wissen die Eltern aber nicht, wie sie ihre Kinder unterstützen können, um ihre Ambitionen umzusetzen, etwa indem sie darauf achten, dass die Hausarbeiten gemacht werden. Denkbar ist aber auch, dass die Lehrer unbewusst von negativen Stereotypen beeinflusst werden. Möglicherweise haben sie weniger hohe Erwartungen für bestimmte Schülergruppen und fordern diese darum weniger.

Die Psychologen Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer leiten aus ihren Forschungen über Intelligenz tiefgreifende Folgerungen für Schulreformen ab („Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen“, 2013). Da demnach die Gene 50 bis 80 Prozent der Intelligenz festlegen, sei es sinnlos, immer mehr Schülern den Zugang zum Gymnasium zu erlauben. Nur wer einen Intelligenztest bestanden hat, soll rein, 20 Prozent wären dann die Grenze. Leuchtet Ihnen das ein?

Natürlich ist Intelligenz auch genetisch bestimmt. Aber das Lernumfeld ist entscheidend dafür, inwieweit sich dieses Potenzial entfalten kann. Auch die eigene Motivation spielt dabei eine wichtige Rolle. Ein IQ-Test kann den zukünftigen Schulerfolg darum nicht sicher vorhersagen. Es gibt ja durchaus auch „Late Bloomers“, mit einer zunächst langsamen Lernentwicklung. Dass man die Anteile an Gymnasialschülern niedrig halten muss, um das Kompetenzniveau dort zu heben, belegen unsere Forschungen nicht. Die Ergebnisse in Bundesländern wie Sachsen, wo es einen Gymnasialschüleranteil von 40 Prozent gibt, können genau so gut sein wie die in Bayern mit einem Gymnasialschüleranteil von nur 30 Prozent.

Inklusion: "Deutschland hat sich vom internationalen Trend abgekoppelt"

Kann also ruhig jeder aufs Gymnasium?

Das will ich damit nicht sagen, schon gar nicht angesichts der Entwicklung zu einem zweigliedrigen Schulsystem wie in Berlin und Hamburg: Hier führen beide Schulformen zum Abitur. Auch in Berlin gibt es übrigens Integrierte Sekundarschulen, denen die Gymnasialklientel die Bude einrennt.

Viele Lehrer tun sich schon jetzt schwer damit, einer sehr heterogenen Schülerschaft gerecht zu werden. Ist es für Deutschland nicht viel zu früh, jetzt auch noch lernbehinderte Schüler zu inkludieren, wie es die UN-Konvention verlangt?

Man möchte einerseits fragen: „Wieso viel zu früh“? Deutschland hat sich sehr lange vom internationalen Trend abgekoppelt. In anderen Ländern wurde die Inklusion längst vollzogen, ohne dass es einer UN-Konvention bedurfte. Aber andererseits sollte man die Dinge nun auch nicht überstürzen. Solche großen Reformen müssen sorgfältig durchdacht, vorbereitet und begleitet werden.

Was muss Deutschland als Erstes tun, um noch besser werden?

Einer der wichtigsten Hebel nach Pisa waren die Bildungsstandards und die Vergleichsarbeiten. Sie geben Auskunft darüber, welche Kompetenzen Schüler entwickeln sollen und inwieweit diese Ziele erreicht werden. Damit hat man die Aufmerksamkeit auf die Qualität des Unterrichts gelenkt, und da gehört sie auch hin. Das Potenzial der Vergleichsarbeiten wird aber noch zu wenig genutzt. Die Schulleiter sollten gemeinsam mit den Lehrkräften analysieren, was gut läuft und was nicht. Auch bei der Sprachförderung könnte man noch besser werden. Kitas und Schulen müssen dabei systematischer vorgehen. Dazu brauchen sie aber geschultes Personal. In Berlin wäre da sicher eine Professur für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache hilfreich. Bislang gibt es nämlich noch keine.

Die Fragen stellte Anja Kühne.

Petra Stanat ist Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität und war Mitglied im Konsortium von Pisa 2009.

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