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Zählen, rechnen, schätzen – das menschliche Gehirn ist auf Mathe programmiert.

© Getty Images/Viacheslav Besputin

Was graue Zellen fit für Mathe macht: Das Gehirn kann von Natur aus rechnen – eigentlich

Zählen, rechnen, schätzen – das menschliche Gehirn ist auf Mathe programmiert. Zu wissen, wie, hilft, um die eigenen Rechenkünste zu verbessern. Und die von mathemüden Kindern.

Stand:

Für viele Kinder ist Mathematik ein Stolpersteinfach. Ob Brüche oder Gleichungen – was manchen leicht von der Hand geht, bereitet anderen große Schwierigkeiten.

Dabei ist das Verständnis für Mengen und Zahlen keineswegs nur ein Produkt von Schule und Unterricht. Menschen bekommen Mathematik zu einem gewissen Grad in die Wiege gelegt, denn die Ursprünge mathematischer Fähigkeiten reichen in der Evolutionsgeschichte weit zurück.

Was also ist unveränderlich und wieweit lässt sich Mathe lernen – ob nur für die Schule oder fürs Leben?

„Ein grundlegendes Verständnis von Mengen ist vermutlich angeboren“, sagt der Tierphysiologe und Neurowissenschaftler Andreas Nieder von der Uni Tübingen. „Das zeigt sich daran, dass selbst Neugeborene ein Verständnis für Mengen haben.“ Auch Tiere können Mengen abschätzen, ohne nur einen Tag die Schulbank gedrückt zu haben. So findet sich schon bei wenige Tage alten Küken ein Grundverständnis für das Einschätzen von Anzahlen.

Erst kürzlich untersuchte eine Studie die Ursprünge von mathematischem Verständnis. Ein Team um die Neurowissenschaftlerin Jessica Cantlon von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, Pennsylvania, überprüfte, ob Primaten räumliche und zahlenmäßige Konzepte verstehen.

Brücke zwischen räumlichem Denken und Zahlenverständnis

Die zentrale Frage war, ob bei ihnen zwischen räumlichem und zahlenmäßigem Denken eine „kognitive Brücke“ besteht. Bei menschlichen Kindern gibt es diese Verbindung bereits im Alter von etwa fünf Jahren. Wer zu diesem Zeitpunkt über gute räumliche Fähigkeiten verfügt, zeigt später oft bessere mathematische Leistungen.

Rechnet man im Kopf etwas aus, kommt es darauf an, ob man automatisiert rechnet oder nicht.

Karin Kucian, Neurobiologin am Kinderspital Zürich

Unklar war aber bislang, ob diese kognitive Brücke evolutionär angelegt ist, also auch bei Affen vorkommt, oder erst durch menschliche Kultur und Unterricht entstanden ist. So lernen Kinder beispielsweise in der Schule anhand des Zahlenstrahls Zahlen mit räumlichen Abständen zu verknüpfen.

In der Studie sollten vier Affen auf einem Touchscreen abstrakte 2D-Formen vergleichen: Vielecke mit drei bis zehn Seiten. In jedem Durchgang bekamen die Tiere zuerst eine Beispiel-Form zu sehen. Danach sollten sie aus zwei Optionen eine Form auswählen, die der Beispiel-Form am ähnlichsten war. Die korrekten Antworten erforderten die Beachtung abstrakter Merkmale wie der Anzahl der Seiten, nicht nur äußerlicher Ähnlichkeit. Lagen die Tiere richtig, erhielten sie als Belohnung eine Extraportion Futter.

Affen mit Mathe-Talent

In einer zweiten Aufgabe bekamen sie statt der geometrischen Flächen Anzahlen in Form von Punkten zu sehen. Wie sich zeigte, sagte die Leistung bei den Geometrie-Aufgaben eine spätere Verbesserung bei den Zahlen-Aufgaben vorher. Die Schlussfolgerung der Forscher: Schon nicht-menschliche Primaten bilden eine Transfer-Brücke von der Geometrie hin zu Zahlen – ähnlich wie Kinder. Die Fähigkeit ist offenbar angeboren.

Evolutionär hat sich ein Sinn für Mengen entwickelt, weil es einen Überlebensvorteil hat, Anzahlen unterscheiden zu können. „Es erleichtert beispielsweise das Überleben, wenn Tiere viel Futter von weniger Futter unterscheiden können“, sagt Andreas Nieder, der Tübinger Neurowissenschaftler.

Wenn Kinder früh trainieren, Mengen zu erkennen, hilft ihnen das auch beim Rechnen, sagt der Tübinger Neurowissenschaftler Andreas Nieder.

© stock.adobe.com/YURI ARCURS

Und verteidigen sich Tiere in der Gruppe gegen Angreifer, zahlt es sich aus, wenn man einschätzen kann, mit wie vielen Gegnern man es im Vergleich zur eigenen Gruppe zu tun hat. Darüber können Tiere abschätzen, ob eine Flucht sinnvoller ist als eine Auseinandersetzung. „Wölfe etwa stimmen genau ab, mit wie vielen Artgenossen sie auf die Jagd gehen“, sagt Nieder. „Bei einem Elch reichen sechs, bei einem Bison sind es 13 Tiere.“

Zählende Nervenzellen

Doch was genau passiert im Gehirn, wenn wir mit Mengen und Zahlen hantieren? Beim Menschen und auch bei anderen Primaten ist für das Verständnis von Anzahlen der hintere Scheitellappen von Bedeutung. Hier werden vor allem Areale im sogenannten intraparietalen Sulcus aktiv, einer stark gefalteten Furche, die den oberen und den unteren Scheitellappen trennt.

In diesen Arealen reagieren einzelne Neurone am stärksten auf eine bestimmte Anzahl wie etwa drei Punkte und schwächer auf Nachbar-Anzahlen wie etwa zwei Punkte. Beim Menschen sprechen Teile des intraparietalen Sulcus auch auf Zahlen an.

Außerdem gibt es noch Neurone im Schläfenlappen, die auf Zahlen anspringen. Das fand Andreas Nieder heraus. Er untersuchte mit Kollegen Probanden mit Epilepsie, denen man Elektroden im Schläfenlappen implantiert hatte, um den epileptischen Herd für einen möglichen chirurgischen Eingriff zu lokalisieren. Über diese Elektroden lässt sich die Reaktion einzelner Neurone messen – für Forscher eine einmalige Gelegenheit für einen tiefen Einblick in die Prozesse im Gehirn.

Automatisiert rechnet es sich leichter

Geht es allerdings nicht nur um Zahlen, sondern ums Rechnen, dann braucht der intraparietale Sulcus Unterstützung – von Netzwerken von Nervenzellen, die über die ganze Hirnrinde verteilt sind, sagt die Neurobiologin Karin Kucian vom Kinderspital Zürich. „Rechnet man im Kopf etwas aus, kommt es darauf an, ob man automatisiert rechnet oder nicht“, sagt Kucian. „Ziehen wir bei Kopfrechnen-Aufgaben beispielsweise das auswendig gelernte Einmaleins heran, sind neben dem intraparietalen Sulcus auch Sprachareale der linken Hirnhälfte aktiv.“

Rechne man hingegen eine Aufgabe wie „7+5“ nicht automatisiert, sondern zerlege die Aufgabe in kleine Rechenschritte, brauche man dafür Gedächtnisleistung. Konkret wird dafür das Arbeitsgedächtnis gefordert, um die Zwischenergebnisse im Kopf zu behalten. Außerdem muss man seine Aufmerksamkeit auf die Aufgabe richten und planen. „Das sind alles Leistungen, die von Hirnarealen im vorderen Bereich des Gehirns im Frontallappen übernommen werden“, sagt Kucian.

Wenn man es schafft, Mathematik anhand von Spielen darzustellen, können Kinder leichter lernen.

Andreas Nieder, Neurowissenschaftler, Universität Tübingen

Ob einem Kind das Rechnen relativ leicht von der Hand geht oder ihm die Aufgaben wie ein Buch mit sieben Siegeln erscheinen, lässt sich im Grunde auch an seinem Gehirn ablesen. „Bei normal rechnenden Kindern läuft viel automatisiert ab“, sagt Karin Kucian. Hier wird der intraparietale Sulcus stark aktiviert bei Rechenaufgaben. Auf diese Weise lassen sich die Rechenaufgaben effizient ausführen.

Rechenschwäche kostet Hirnressourcen

Hingegen bei Kindern mit Rechenschwäche, einer Dyskalkulie, regt sich der intraparietale Sulcus weniger stark. „Stattdessen werden verschiedene Areale im vorderen Bereich des Gehirns stärker aktiviert, etwa Gebiete für das Arbeitsgedächtnis“, sagt die Zürcher Neurobiologin. „Bei diesen Kindern braucht es deutlich mehr neuronale Ressourcen, um eine Rechenaufgabe zu lösen.“

Daneben offenbaren sich auch Unterschiede in der Struktur des Gehirns. Betroffene mit Dyskalkulie haben weniger Hirnrinde in den Gebieten im Scheitellappen. „Zudem sind verschiedene Gebiete für Zahlenverarbeitung weniger gut vernetzt“, sagt Kucian.

Schlecht in Mathe zu sein, muss aber kein Schicksal sein. Wenn Kinder trainieren, Mengen zu erkennen, helfe ihnen das auch beim Rechnen, sagt Andreas Nieder. Auch allgemeine Lernfähigkeiten zu fördern, könne helfen. Etwa indem man das Arbeitsgedächtnis und die Aufmerksamkeit trainiert. Wichtig sei auch, die Motivation zu fördern. „Mathematik hat ja den Ruf, abstrakt, formell und ernst zu sein“, erklärt Andreas Nieder. „Wenn man es aber beispielsweise schafft, Mathematik anhand von Spielen darzustellen, können Kinder leichter lernen.“ 

In einer eigenen Studie hat Karin Kucian mit Kollegen für Kinder mit Dyskalkulie ein Computerprogramm entwickelt, mit dem sie spielerisch rechnen lernen können. Zudem passte sich das Programm individuell an die Bedürfnisse der Kinder an. Nach dem mehrwöchigen Training sei der intraparietale Sulcus stärker aktiv geworden und dafür Gebiete im vorderen Bereich des Gehirns weniger stark aktiv. „Die Hirnaktivität hat sich also im Zuge des Trainings normalisiert.“ Solche Apps können, einer kontrollierten Studie zufolge, auch Schülerinnen und Schülern ohne Dyskalkulie helfen.

Mathematik ist also weit mehr als trockene Zahlen und Formeln aus dem Schulunterricht. Sie wurzelt tief in unserer Evolution und spiegelt sich in der Aktivität ganzer Hirnnetzwerke wider. Und schon früh im Kindesalter entscheidet sich, ob Rechnen zur Selbstverständlichkeit oder zur Hürde wird.

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