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Eifriger Europa-Verfechter: Steven Bray, Gründer von SODEM, demonstriert in London täglich gegen den Brexit.

© picture alliance/Dinendra Haria

Sicherheitsgemeinschaften: Wenn Bündnisse zerbrechen

Simon Koschut untersucht, warum der Zusammenhalt von Staaten in die Krise gerät und hält die Gefahren, die zu einem Zerfall führen könnten, für sehr real.

Mit Großbritannien wird – vermutlich Ende März – eines der Kernländer Europas aus der Europäischen Union austreten. Und mit Donald Trump hat ausgerechnet ein amerikanischer Präsident die Existenzberechtigung des transatlantischen Verteidigungsbündnisses, der NATO, in Zweifel gezogen und riskiert einen Handelskrieg mit seinen europäischen Partnern. Der Ton zwischen jahrzehntelangen Partnern wird zunehmend rauer. „Noch vor wenigen Jahren schien es undenkbar, dass der Zusammenhalt westlicher Sicherheitsgemeinschaften ernsthaft in Frage stehen könnte“, sagt Simon Koschut. „Heute sind die Gefahren, die zu einem Zerfall führen könnten, real.“

Koschut ist Politikwissenschaftler und lehrt derzeit als Gastprofessor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. 2018 bewilligte ihm die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Heisenberg-Stipendium. Er beschäftigt sich seit 2010 mit der sogenannten Desintegration von Sicherheitsgemeinschaften. Der Frage also, wie und warum der friedliche Zusammenhalt von Staaten in die Krise gerät und einst erfolgreiche Bündnisse zerfallen. Für sein Buch „Normative Change and Security Community Desintegration. Undoing Peace“ ist der Wissenschaftler im vergangenen Jahr mit dem Ernst-Otto-Czempiel-Preis des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) ausgezeichnet worden.

Darin untersucht er zwei Fälle von Desintegration. Den Deutschen Bund, also jenen deutsch-österreichischen Staatenbund, der von 1815 bis 1866 existierte und aus dessen Zerfall schließlich das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn als eigenständige Großmächte hervorgingen. Diesen historischen Fall setzt Koschut in Bezug zur Situation der NATO in den frühen 2000er Jahren, als das Bündnis im Streit um den amerikanisch-britischen Einmarsch in den Irak schon einmal in die Krise geriet.

Ein gemeinsames normatives Fundament stärkt Bündnisse

Koschuts zentrale Einsicht: Der entscheidende Faktor für den Zerfall von Sicherheitsgemeinschaften ist der Verfall gemeinsamer Normen. Nur wenn Werte geteilt würden und an gemeinsam vereinbarten Regeln festgehalten werde, könnten Gemeinschaften langfristig bestehen, sagt der Politikwissenschaftler. „Enorm wichtig dabei ist, dass die gemeinsamen Normen Rückhalt in der Gesellschaft genießen.“ So sei der Deutsche Bund, der sich als konservativ-monarchistisches Bollwerk gegen das Gedankengut der Französischen Revolution verstanden habe, auch maßgeblich deshalb gescheitert, weil er es nicht vermocht habe, bürgerliche Bevölkerungsgruppen und ihre national-liberalen Ideen politisch zu integrieren.

„Die NATO hingehen hat damals die Kurve gekriegt“, sagt Koschut. „Zwar hat es heftigen Streit unter den Partnern gegeben – das gemeinsame normative Fundament wurde aber nie in Zweifel gezogen.“ Koschut identifiziert in seiner Arbeit drei fundamentale Normen des transatlantischen Bündnisses. Die erste Norm stellen die gemeinsamen Werte dar – zuvorderst die liberalen Freiheitsrechte demokratischer Marktwirtschaften und die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Die zweite Norm ist die Überzeugung des multilateralen Handelns, also die Idee, dass kein Partner in einem Konfliktfall alleine agiert, sondern sich alle um eine friedliche Lösung bemühen. Die dritte Norm stellt schließlich die gemeinsame Kommunikation dar. „Es gilt, andere Partner nicht nur über bereits getroffene politische Entscheidungen zu informieren, sondern auch die Interessen des Gegenübers einzubeziehen“, sagt Koschut. „Das ist vom NATO-Rat so beschlossen worden.“

Die aktuelle politische Situation schätzt Koschut vor dem Hintergrund seiner Forschungsergebnisse als ernst ein. „Im Gegensatz zur Krise Anfang der 2000er Jahre gerät heute das normative Fundament der NATO unter Druck“, sagt Koschut. „Und zwar gleich in allen drei Normkategorien.“ Besonders alarmierend: Es seien ausgerechnet die USA, Architekt und bisher wichtigste Garant der transatlantischen Partnerschaft, die die gemeinsamen Normen zunehmend verletzten.

Europäische Institutionen müssten die Bürger der Union mehr mitnehmen

Aus Koschuts Forschung wird aber auch ersichtlich, wie viel Gestaltungsmacht die Bürgerinnen und Bürger haben. Ob sich gemeinsame Normen halten oder ein Wandel stattfindet, werde nicht von den politischen Eliten bestimmt, sondern entscheide sich in der Mitte der Gesellschaft. „Und da zeigen Umfragen, dass die NATO in weiten Teilen der Bevölkerung in den USA und in Europa großen Rückhalt genießt“, sagt Koschut. Solange das so bleibe, sieht er den Bestand der NATO nicht in Gefahr. „Für die Europäische Union ist die Lage da etwas prekärer“, sagt Koschut. „Bekanntlich gehen die Zustimmungswerte in der Bevölkerung in einigen Mitgliedstaaten teilweise deutlich zurück.“

Umso größeren Handlungsbedarf sieht Koschut bei den europäischen Institutionen: Sie müssten die Bürgerinnen und Bürger der Union mehr mitnehmen. Für den weiteren Erfolg der Europäischen Union sei es essentiell wichtig, die Bevölkerung weiter oder wieder für das europäische Projekt zu begeistern. „Es muss ein kollektives Bewusstsein dafür geschaffen werden, welch hohes öffentliches Gut mit dem verlässlichen Frieden zwischen den europäischen Staaten geschaffen wurde“, sagt Koschut. „Dafür müssen wir stärker werben.“

Und wenn eines der Bündnisse eines Tages zerbrechen sollte? „Das wäre schlimm, muss aber nicht das Ende von allem bedeuten“, sagt Koschut. Im Fall des Deutschen Bundes etwa sei aus dem Bruch der deutsche Nationalstaat entstanden. „Der Zerfall hat also am Ende gewissermaßen für mehr Integration gesorgt.“

Dennis Yücel

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