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Gefangen im Schneesturm: Wie ein Tourengeher in den Alpen plötzlich um sein Leben kämpfte
Tommaso Piccioli sagt, er habe die Hölle kennengelernt – im Schneesturm, als seine Gruppe sich verirrte. Sieben Menschen starben. Er überlebte. Was hat ihn gerettet?
Stand:
Am Vorabend der Katastrophe isst Tommaso Piccioli, so wird er sich später erinnern, in der gut beheizten Berghütte noch drei Teller Suppe. Als einige Mitglieder der Skigruppe seinen Hunger bemerken, sagt Piccioli: „Am Berg isst man besser viel, man weiß nie, was am nächsten Tag passiert.“
Die Skitourengeher sind Ende April 2018 auf der „Haute Route“ unterwegs, der legendären mehrtägigen Tour in den Walliser Alpen, die von Chamonix nach Zermatt führt. Für viele von ihnen geht damit ein Lebenstraum in Erfüllung. Auch für Tommaso Piccioli, den 59-jährigen Architekten aus Mailand. Doch die Wettervorhersagen melden eine Sturmfront aus Süden.
Die Gruppe geht trotz Warnung los
In der Berghütte Cabane de Dix auf knapp dreitausend Metern, gemauert aus Schiefergestein und umgeben von den imposanten Gipfeln der Westalpen, sind zu diesem Zeitpunkt rund sechzig Menschen. Während sich die meisten von ihnen entscheiden, in der Hütte auf eine Wetterbesserung zu warten, macht sich Picciolis Gruppe am nächsten Morgen auf den Weg.
Der Schneesturm bricht gegen Mittag über sie herein – und er ist stärker als erwartet: mit Böen über hundert Kilometer pro Stunde und einem Temperatursturz auf minus zwanzig Grad. Wer das Unwetter überlebt, wird später von dreißig Zentimeter langen Eisbärten aus gefrorenem Atem berichten, von Märschen auf Knien, um von den Böen nicht umgerissen zu werden.
Piccioli und seine Gruppe sind völlig orientierungslos, ihr Etappenziel, die Cabane Des Vignettes, werden sie an diesem Tag nicht mehr erreichen. Sie verfehlen ihr Ziel ganz knapp und verbringen die Nacht im Freien, nur fünfhundert Meter von der schützenden Hütte entfernt. Am nächsten Morgen, am 30. April 2018, sind sieben Menschen tot.
Es ist eines der größten Bergunglücke in der Geschichte des Schweizer Alpinismus. Nur drei aus der Gruppe haben überlebt: der Schweizer Luciano Cattori, der zu diesem Zeitpunkt schon 72 Jahre alt ist; Julia Hruska, eine Freizeitbergsteigerin aus München; und der Italiener Tommaso Piccioli.
In Interviews wird Piccioli schon wenige Tage nach dem Unglück sagen, dass er in jener Nacht bewusst versucht habe, nicht einzuschlafen. Das habe ihn gerettet. Aber war das wirklich der entscheidende Faktor?

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Wenn allein Erfahrung und physische Kraft ausschlaggebend gewesen wären, hätten andere weit bessere Überlebenschancen gehabt. Der Bergführer zum Beispiel, ein altgedienter Alpinist, der schon drei Achttausender bestiegen hat. Was haben die drei Überlebenden im Gegensatz zu ihm intuitiv richtig gemacht, um die Nacht im eisigen Sturm zu überleben?
Das ist eine der Fragen, die auch die Forschung beschäftigt. Was geschieht im Körper beim Erfrieren? Was rettet einen Menschen im Ernstfall?
Menschliche Fehler und ungünstige Umstände
Nach dem Unglück leitet die Staatsanwaltschaft Wallis ein Ermittlungsverfahren ein. Schon bald ist klar: Eine ganze Reihe menschlicher Fehler und ungünstiger Umstände hat zu dieser Katastrophe in den Alpen geführt.
Es beginnt mit der Gruppengröße: neun Menschen und nur ein Bergführer. Üblich sind bei so vielen Teilnehmern zwei Bergführer, vor allem auf einer anspruchsvollen Tour wie der Haute Route.
Mario Castiglioni, der Bergführer, verließ sich offenbar auf seine Erfahrung und seinen Instinkt. Die Entscheidung, trotz des aufziehenden Schneesturms aufzubrechen, traf er, ohne sich mit seiner Gruppe zu beratschlagen. Das war ein Fehler, weiß man heute.
Denn der Sturm zog plötzlich früher auf als erwartet. Später funktionierten weder Castiglionis GPS-Gerät noch sein Handy mit eingezeichneter Karte. Als aber Tommaso Piccioli ihm sein funktionierendes GPS mitsamt Karte anbot, schlug der Bergführer die Hilfe lange Zeit aus. Wieder ein schwerwiegender Fehler.

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Auf dem Col du Brenay, einem Hochplateau auf etwa 3600 Metern Höhe, irrt die Gruppe fast sechs Stunden im völligen „White-Out“ umher – das bedeutet, im allumfassenden gleißenden Weiß ist nichts mehr in der Umgebung zu erkennen.
Bei guten Verhältnissen braucht man für den Weg von dort zur Hütte eine Dreiviertelstunde. Stattdessen stapfen die Wanderer bis zur Erschöpfung durch die Schneewehen, ohne Essens- und Trinkpausen. Ihnen wird zunehmend klar, dass es lebensgefährlich wird, wenn sie es nicht zur Hütte schaffen.
Gegen 18 Uhr erreichen sie eine markierte Stelle. Sie sind wieder auf dem richtigen Weg – die Hütte ist von hier nur noch fünfhundert Meter entfernt. Doch vor ihnen liegt eine steile Stelle. Der genaue Wegverlauf ist im dichten Schneegestöber nicht zu erkennen, aber auf gut Glück herumzuirren, ist hier keine Option. Ein falscher Schritt in dem felsigen Gelände und man stürzt in den Tod.
Noch nicht alles verloren
Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht alles verloren. Immer wieder kommt es vor, dass Wanderer im Hochgebirge von Schneestürmen überrascht werden. Die Rettung ist dann oft ein Notbiwak. Nur: Wie baut man so ein Lager im Freien richtig?
Peter Paal, Facharzt für Intensivmedizin und Präsident des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit, ist selbst leidenschaftlich gern in den Bergen unterwegs und forscht zu Extremsituationen im Gebirge. Eine kleine Höhle im Schnee und eine Felsmulde böten oft schon genügend Schutz, um eine eisige Nacht durchzustehen, sagt Paal.
Wichtig sei es, sich vor Wind und Feuchtigkeit zu schützen, am besten aufrecht auf einem Rucksack zu sitzen und nicht direkt mit kalten Oberflächen, wie Schnee oder Eis in Berührung zu kommen.

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Doch so ein Schneeloch muss erst gegraben, eine geeignete Felsmulde erst gefunden werden. Dazu braucht es Energie. Und idealerweise Tageslicht. „Die Entscheidung, ein Notbiwak zu bauen, sollte möglichst früh fallen. Je schneller man sie trifft, desto höher sind die Chancen, am nächsten Tag noch am Leben zu sein“, sagt Paal.
Neben der Zehnergruppe biwakiert in jener Nacht noch eine weitere Gruppe an der markierten Stelle: vier Franzosen. Auch sie wissen im Sturm nicht mehr weiter. Auch sie suchen lange vergeblich nach dem richtigen Weg.
Doch im Gegensatz zu Bergführer Castiglioni entscheiden sie sich, ihre letzten Kräfte und das Dämmerlicht zu nutzen, um sich einen windgeschützten Platz für die Nacht zu suchen. Den finden sie schließlich – nur zwanzig Meter oberhalb vom Gebirgspass, an dem Piccioli und die anderen ausharren. Hier ist es windstiller, weniger exponiert. Alle vier Franzosen überleben den Sturm.
Waren drei Teller Suppe lebensrettend?
Das menschliche Gehirn braucht die richtige Temperatur, um gute Entscheidungen zu treffen. Und Zucker, also Energie. „Ist man erschöpft und kalt, dann erhöht sich das Risiko für Fehlentscheidungen dramatisch“, sagt Paal. Aber nicht nur das. Je erschöpfter man ist, desto schneller kühlt man aus, desto müder wird man – ein Teufelskreis.
Der Grund dafür ist die Art und Weise, wie unser Gehirn die Körpertemperatur reguliert. Der Hypothalamus, ein Teil des Zwischenhirns, ist so etwas wie das Thermostat des menschlichen Körpers. Wenn es kalt wird, gibt er zunächst Befehle an das Nervensystem, um Wärmeverlust zu verhindern: Die Muskeln beginnen zu zittern und generieren Wärme.
Die Blutgefäße verengen sich, besonders in Händen und Füßen; so bleibt das Blut im wärmeren Rumpfbereich bei den lebenswichtigen Organen. Das alles passiert unbewusst und verbraucht viel Energie. Ein uralter Mechanismus, so alt wie die Säugetiere selbst.
Waren es also doch die drei Teller Suppe, die Piccioli gerettet haben?
Das sei schwer zu sagen, sagt Paal. Aber wer konstant trinkt und seinem Körper Energie zuführt, erhöhe die Überlebenschancen drastisch. Immer wieder kommt es vor, dass superfitte, aber in diesem Moment ausgezehrte Extremsportler am Berg von Unwettern überrascht werden und an Unterkühlung sterben.
Wann das Temperaturzentrum abschaltet
Sinkt die Körpertemperatur einmal unter 32 Grad, geschieht etwas Seltsames. Der Hypothalamus hört auf zu funktionieren – und mit ihm auch andere Gehirnregionen. Jetzt, wo das Temperaturzentrum des Körpers außer Betrieb ist, weiten sich die Gefäße wieder, das warme Blut aus dem Körperinneren fließt in die unterkühlten Extremitäten.
Betroffene fühlen dann häufig die Kälte nicht mehr, sie halluzinieren, in manchen Fällen reißen sie sich die Kleider vom Leib. Das Phänomen heißt Kälte-Idiotie, eine Art Rauschzustand. Reinhold Messner nannte Erfrieren deshalb einen schönen Tod.
Das Einschlafen an sich beschleunigt den Kältetod nicht.
Peter Paal, Facharzt für Intensivmedizin und Präsident des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit
Tommaso Piccioli wird später sagen, er habe in jener Nacht die Hölle kennengelernt. Er hatte zuvor mal gelesen, dass es dann, wenn man am liebsten einschlafen würde, erst richtig gefährlich wird.
Mitten im Schneesturm, als sein Körper längst aufgehört hat zu zittern und er langsam vor sich hindöst, erinnert er sich plötzlich daran. Nur nicht einschlafen, sagt er sich immer und immer wieder. Er ruft es auch den anderen zu: Nicht einschlafen, in Bewegung bleiben!
Und wenn es nur ein leichtes Wippen im Sitzen ist. Doch von manchen seiner Kameraden kommt schon keine Antwort mehr. Wachbleiben, den Kälteschmerz aushalten, für eine schwindend geringe Chance auf Rettung. Wenn man erst einmal dem Sog nachgibt und wegschlummert, kehrt man nicht mehr zurück, glaubt Piccioli.
Er denkt an seine Frau und an seine Mutter, er denkt an die Verantwortung, die er ihnen gegenüber hat, am Leben zu bleiben. Auch das habe ihn wachgehalten, sagt er später.
26 Grad Körpertemperatur
Es gibt tatsächlich eine Korrelation zwischen dem Bewusstseinszustand und der Gefahr, wegen der Kälte einen Herzstillstand zu erleiden. Doch ob das Einschlafen per se gefährlich ist, bezweifeln Forscher mittlerweile. „Wachbleiben ist gut, um reaktionsfähig zu bleiben, um sich selber zu helfen und um Hilfe zu rufen“, sagt Peter Paal.
„Das Einschlafen an sich beschleunigt den Kältetod aber nicht.“ Das Bild vom sogartigen Schlaf, dem man nicht nachgeben darf, das gebe im Film zwar gute Szenen ab – der Wahrheitsgehalt sei aber gering.

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Am nächsten Morgen, um sechs Uhr, wird es hell. Die Wolken reißen auf, die Sicht ist klar. Ein großes Glück. Die Skitourengeher, die in der Cabane des Vignettes übernachtet haben, bemerken einen Mann im Hang oberhalb der Hütte. Es ist die Leiche des Bergführers.
Luciano Cattori, der 72-jährige Schweizer, ist zu diesem Zeitpunkt längst eingeschlafen. Später wird er sich an wohlige Träume erinnern, die er in jener Nacht hatte, an surreale Landschaften, Blumen, sich drehende Girlanden. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wird, hat er 26 Grad Körpertemperatur und eingedicktes Blut. Die Ärzte messen nur fünf Herzschläge pro Minute. Doch er überlebt.
Im Gegensatz zu ihm sind Tommaso Piccioli und die deutsche Freizeit-Bergsteigerin Julia Hruska am Morgen noch wach. Als sie in der Nähe die anderen Skitourengeher entdecken, rufen sie nach Hilfe. Was darauf folgt, ist eine der größten Rettungsaktionen in den Alpen der vergangenen Jahre. Zeitweise sind sieben Helikopter in der Luft.
„Das Ganze hätte nicht geschehen sollen. Wir sind nicht stärker als die Natur. Es ist dumm, sich in eine solche Situation zu bringen“, sagt Piccioli ein paar Jahre später im Schweizer Fernsehen.
Und doch: Das war nicht das letzte Bergunglück auf der Haute Route. Am 9. März 2024 gerät eine Gruppe von sechs Skitourengehern auf rund 3500 Metern Höhe wieder in einen Schneesturm. Diesmal bleibt das Wetter mehrere Tage schlecht, eine Rettungsaktion ist unmöglich.
Und diesmal nehmen die Medien kaum Notiz von dem Unglück – obwohl es von ähnlichem Ausmaß ist. Wie genau sich diese Katastrophe abgespielt hat, bleibt bis heute unklar. Niemand aus der Gruppe hat überlebt.
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