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Zuckerfreie Kaugummis: Verdaugummis

Zuckerfreie Kaugummis können chronischen Durchfall verursachen

Die 21-jährige Frau hatte in acht Monaten elf Kilogramm verloren und war mit knapp 41 Kilo eindeutig untergewichtig, der 46-jährige männliche Patient hatte in einem Jahr sogar 22 Kilo abgenommen, doch hatte er etwas mehr zuzusetzen. Beide litten unter häufigen wässrigen Durchfällen, hatten seit Monaten Blähungen und Bauchschmerzen.

Als die beiden Patienten schwer gebeutelt bei den Magen-Darm-Spezialisten auf dem Campus Mitte der Charité landeten, hatten sie schon Magen- und Darmspiegelungen, Ultraschall, Röntgenaufnahmen sowie eine Palette von Blutuntersuchungen hinter sich – als endlich ein Arzt die entscheidende Frage stellte: Kauen Sie eigentlich viele zuckerfreie Kaugummis? Eine Frage, die nach Ansicht der Mediziner um Jürgen Bauditz von der Charité-Klinik für Innere Medizin IV im Praxisalltag häufiger gestellt werden sollte: Bei der Frau waren es im Schnitt 16 Stück täglich, bei dem Mann sogar an die 20 Kaugummis – dazu kamen bei ihm noch andere zuckerfreie Süßigkeiten. Die Ursache für die Beschwerden war der Zuckeraustauschstoff Sorbit.

In kleinen Mengen auch in Birnen oder Pflaumen enthalten, kann Sorbit in höherer Dosis für den Verdauungstrakt zum Problem werden. Es wird vom Dünndarm kaum aufgenommen und zieht Wasser an. Ein handelsüblicher Kaustreifen enthält 1,25 Gramm Sorbitol, ab fünf Gramm bekommen viele Menschen von dem Lebensmittelzusatzstoff mit der Nummer E420 Bauchkrämpfe und Blähungen, bei mehr als 20 Gramm leidet schon die Hälfte aller Konsumenten einer älteren Studie zufolge unter Durchfall. Da Sorbit auch als abführende Substanz zum Einsatz kommt, ist das nicht weiter erstaunlich.

Der Arzt muss nur darauf kommen. Die Charité-Ärzte, die ihre Fälle in der Fachzeitschrift unter der Rubrik „Lesson of the Week“ vorstellen, raten ihren Kollegen denn auch dringend zu einem ausführlichen Gespräch über Ernährungsgewohnheiten. Die Patienten, die in die Charité kommen, waren meist vorher schon bei mehreren Ärzten. Und kommen mit einem ganzen Paket von Befunden. „Der Standard ist, dass die Ärzte sofort Röntgen, Endoskopie und Labortests machen. Wir erleben dann, dass ein halbstündiges Gespräch den Fortschritt bringt“, sagt Herbert Lochs, Leiter der Charité-Klinik, in der die Ursache für das Leid der beiden Patienten entdeckt wurde. Genauere Untersuchungen des Stuhls und ein einfacher Hungertest helfen anschließend, die Diagnose „Malabsorptionsdurchfall“ zu bestätigen. Durchfall, der durch eine Entzündung ausgelöst wird, lässt sich durch Hungern oder Weglassen einzelner Nahrungsbestandteile dagegen nicht beeinflussen. Bei den beiden Patienten lag es eindeutig am Sorbit: Sobald sie auf die Kaugummis verzichteten, waren sie die Beschwerden los, ein Jahr später hatten beide wieder mehrere Kilo zugenommen.

Zuckeraustauschstoffe wie Sorbit oder Xylit sind nicht zu verwechseln mit Süßstoffen wie Aspartam, Cyclamat oder Saccharin, die deutlich süßer sind als Zucker, aber praktisch keine Kalorien liefern. Sorbit hat etwa halb so viele Kalorien wie Haushaltszucker – da der Körper es aber nicht aufnimmt, spielen diese Kalorien gar keine Rolle.

Was Zuckeraustauschstoffe in Kaugummis und anderen Süßigkeiten so attraktiv macht, ist vor allem, dass sie den Bakterien, die Karies verursachen, weniger Nahrung geben. Und sie ersetzen Zucker in Produkten für Diabetiker, weil sie den Blutzuckerspiegel weniger stark beeinflussen.

Dass exzessives Kaugummi-Kauen zu großen Gewichtsverlusten führen kann, wurde bisher in der Fachliteratur nicht berichtet. Lochs vermutet, dass durch das Sorbit auch andere „Nährstoffe nicht im normalen Umfang aufgenommen“ werden. Ein Wundermittel zum Abnehmen ist es aber nicht – schon wegen der Bauchschmerzen und der lästigen Durchfälle. Wo weniger Nährstoffe resorbiert werden, droht außerdem Eiweißmangel.

Inzwischen findet sich die Kurzfassung der beiden Krankengeschichten, wie bereits kurz im Tagesspiegel gemeldet, im „British Medical Journal“ (Band 336, S. 96) – und interessiert die Medien in aller Welt. „Wegen Kaugummi fast verhungern“, wie es gestern die Schlagzeile einer Berliner Boulevardzeitung nahelegte, wird aber so schnell niemand.

Adelheid Müller-Lissner

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