
© Barbara Halstenberg, KI-generiert durch CapCu
Zukunftsvision an der TU Berlin: Mobilität mit minimalem Ressourceneinsatz
Erst die Vision, dann die technischen Entwicklungen. Forscherinnen und Forscher arbeiten an Innovationen für nachhaltigen Stadtverkehr.
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Ein Blick in die Zukunft: Auf dem einst verkehrsreichen Ernst-Reuter-Platz fahren auf einer zweispurigen, schmalen Fahrbahn kleine, autonome Fahrzeuge mit elektrischem Antrieb. Breite Fahrrad- und Fußwege führen um den begrünten Platz, hinein in die Straße des 17. Juni. Auf Bänken sitzen Studierende und unterhalten sich angeregt. Im Hintergrund spielen Kinder auf einer Wiese, wo früher Parkplätze für Privatfahrzeuge waren. Ein Paar geht mit seinem Hund spazieren.
Die Geräusche der Stadt sind gedämpft, Vögel zwitschern, donnernde Lastwagen sind verschwunden. Vor den TU-Gebäuden stehen Hunderte Fahrradständer. Dank des reduzierten, entschleunigten Verkehrs trauen sich viel mehr Menschen, mit dem Fahrrad zu fahren. Viele Bäume spenden Schatten und tragen – neben den fehlenden Autoabgasen – zur Verbesserung der Luftqualität bei.
Verdunstungsbeete sorgen für eine natürliche Kühlung in heißen Sommermonaten. Breit angelegte Blumen- und Pflanzenbeete säumen den Weg zur nahegelegenen S- und U-Bahnstation und bieten Lebensraum für Insekten und kleine Tiere. Viele Menschen nutzen mittlerweile den Weg zum Arbeitsplatz für einen erholsamen Spaziergang.
Diese Zukunftsvision von Mobilität mit minimalem Ressourceneinsatz hat ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der TU Berlin im Rahmen der Forschungsinitiative „Pure Mobility“ entworfen. Ihr ungewöhnlicher Ansatz, technische Innovationen anhand einer Zukunftsvision zu entwickeln und nicht, wie sonst üblich, die Vorstellung von der Zukunft technischen Entwicklungen folgen zu lassen, wird seit Oktober 2024 auch von der Berlin University Alliance gefördert.
Das Team der Profesorinnen und Professoren hinter „Pure Mobility“ ist interdisziplinär. Steffen Müller kommt aus der Kraftfahrzeugtechnik, Sabine Ammon ist Philosophin, Frank Rackwitz leitet das Fachgebiet Grundbau und Bodenmechanik, Christine Ahrend das Gebiet Integrierte Verkehrsplanung und Utz von Wagner sowie die Habilitandin Kerstin Kracht kommen aus der Mechatronischen Maschinendynamik. Im Rahmen verschiedener Unterprojekte sind weitere Forschende aus unterschiedlichen Fachbereichen sowie gesellschaftliche Akteure aus dem Berliner und Brandenburger Umfeld beteiligt.
„Hinter ‚PureMobility‘ steckt die Reduzierung auf das Notwendige für nachhaltige und menschzentrierte Mobilität. Der individuelle Verkehr soll hierbei in weiten Teilen aus der Stadt verschwinden“, erklärt Steffen Müller das Konzept. „Bis jetzt sind unsere Städte im Wesentlichen für Individualverkehr und schwere Fahrzeuge ausgelegt, die 200 Stundenkilometer auf der Autobahn fahren oder große Lasten transportieren können.
Radikal neue Fahrzeugmodelle
Das verbraucht enorme Ressourcen und belastet die Umwelt. Zudem sind private Fahrzeuge im Durchschnitt 23 Stunden nur geparkt und belegen dabei viel Platz. Wir möchten deshalb einen grundsätzlich anderen Weg einschlagen und die Wahrnehmbarkeit gelebter Mobilität auch angenehmer für diejenigen machen, die nicht im Fahrzeug sitzen, ohne damit die Mobilität innerhalb der Stadt wesentlich einzuschränken.“
Statt auf große, multifunktionale Autos setzt das Projektteam in der Stadt auf Mobilitätsservices mit kleineren, spezialisierten Fahrzeugen, die für den urbanen Verkehr optimiert sind, die autonom fahren und elektrisch betrieben werden. „Die fahrerlosen PMVs, die Pure Mobility Vehicles, sind idealerweise ständig in Bewegung und benötigen deutlich weniger und seltener Platz zum Parken“, erklärt Utz von Wagner.
Manche Fahrzeuge müssen für eine funktionierende Stadt größer und schwerer sein, weswegen die Fahrwege ausreichend resilient gestaltet werden sollten.
Frank Rackwitz, TU Berlin
Sie seien anwendungsspezifisch gewichts- und volumenoptimiert und sollen sich in den meisten Bereichen der Stadt mit eher niedrigen Geschwindigkeiten bewegen. Das reduziere den Energieverbrauch und die Lärmbelastung, erhöhe die Verkehrssicherheit und ermögliche ganz neue Entwicklungsansätze für die Fahrzeug- und Fahrweggestaltung. Wie sich diese innovativen Veränderungen auf das ökologische Stadtsystem auswirken, wird von der Stadtökologin Galina Churkina untersucht.
Perspektiven von verschiedenen Menschen
„Der Verkehr mit leichteren und langsameren Fahrzeugen ermöglicht auch eine gerechtere Mobilität“, ergänzt Sabine Ammon, die als Technikphilosophin eine ganzheitliche Perspektive einbringt. „So sind Menschen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, weniger gefährdet.“ Und weiter: „Eine der Besonderheiten unseres Forschungsansatzes ist, dass diese ersten Überlegungen gemeinsam mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen zu einer weiteren Konkretisierung der Vision ausgebaut werden, die der technischen Entwicklung die Richtung weist.“
Indem beispielsweise Perspektiven von Fußgängerinnen, Fahrradfahrenden, Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder die Auswirkungen von Lärm auf das psychische Wohlbefinden von Anfang an in die Forschung eingebunden und berücksichtigt werden, können passende Rahmenbedingungen für alle besser in die technische Ausgestaltung einfließen.
Ein ganz neuer Straßenaufbau
„Sind die Autos kleiner und leichter, ermöglicht das nicht nur den Rückbau von mehrspurigen Straßen, sondern auch einen ganz neuen Straßenaufbau, der dünner und damit ressourcenschonender ist.“ Frank Rackwitz’ Vision umfasst leichte und durchlässige Fahrbahnstrukturen – die „Pure Mobility Roads“ – die weniger Wärme speichern beziehungsweise abgeben und so das Stadtklima verbessern. Statt des bisher gängigen CO₂-intensiven Portlandzements erforscht er die Verwendung von alternativen Bindemitteln in Verbindung mit Maßnahmen zur Verbesserung des Untergrunds, die nachhaltiger und umweltfreundlicher sind.
Natürlich können nicht sofort alle heutigen Straßen abgerissen werden.
Steffen Müller, TU Berlin
Die neuen Fahrbahnbeläge sollen grobporiger und damit wasserdurchlässig sein, um, im Sinne des Schwammstadtkonzepts, Regenwasser besser in den Untergrund abzuleiten und dort zu speichern. Durch die leichtere Bauweise sind Reparatur und Wartung der Straßen weniger aufwendig und kostspielig. Der Straßenaufbau soll, so Rackwitz, den tatsächlichen Anforderungen entsprechend geplant und entworfen werden. So könne er besser mit den kleinen und leichten Fahrzeugen sowie mit dem vorhandenen Untergrund interagieren.
Mobilität auf Abruf
Die Pure Mobility Vehicles sollen per App gebucht werden können. Nutzende geben für den Weg zur Arbeit oder zum einkaufen ihre gewünschte Abholzeit und den Zielort ein und werden kurz darauf abgeholt. Am Ziel angekommen, fährt das Fahrzeug selbstständig weiter, um die nächsten Fahrgäste abzuholen.
Für kinderreiche Familien oder Kleingruppen plant das Team geräumigere Optionen mit mehreren Sitzplätzen. „Die servicebasierte Fahrzeugflotte soll Teil des öffentlichen Personenverkehrs werden oder ihn ergänzen und individuelle Mobilität innerhalb der Stadt auch ohne ein eigenes Auto ermöglichen“, betont von Wagner. Ein ähnlicher Ansatz wäre dann auch für den Güterverkehr im Stadtbereich denkbar.
Herausforderungen und Ausblick
Große Fahrzeuge wie Feuerwehr- und Müllwagen stellen noch eine Herausforderung dar. „Manche Fahrzeuge müssen für eine funktionierende Stadt größer und schwerer sein, weswegen die Fahrwege ausreichend resilient gestaltet werden sollten“, sagt Rackwitz.
Eine andere offene Frage ist, wie mit langsam fahrenden Pure Mobility Vehicles und in Kombination mit dem öffentlichen Nahverkehr lange Distanzen innerhalb der Stadt ohne allzu große Zeiteinbußen überwunden werden können. Nicht einfach zu bewältigen ist auch der Transformationsprozess.
„Natürlich können nicht sofort alle heutigen Straßen abgerissen werden“, sagt Müller, „aber da, wo neue Straßen entstehen, wo alte ausgebessert werden, wo neue Quartiere errichtet werden, könnte schon umgedacht werden.“ Aktuell arbeitet das Team an neuen Fahrzeug- und Fahrwegkonzepten für die „Pure Mobility“-Vision.
Als Nächstes wird deren Wirkung auf den Verkehr und die Umwelt in Verkehrs- und Stadtklimasimulationen geprüft sowie gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren die Vision weiterentwickelt. Ein großer Verbundantrag soll 2026 eingereicht werden – ein weiterer Schritt hin zur Vision des „Pure Mobility“-Teams: ohne Lärm, Abgasgestank und Unfallgefahr auf dem Campus der TU Berlin zu spazieren, über die Straße des 17. Juni unter Bäumen, vorbei an Blumenbeeten, Bänken und großen Fuß- und Fahrradwegen.
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