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Adam Soboczynski 

© Klett Cotta/Annette Hausschild

Adam Soboczynskis Westen und Osten: Vom Schwinden der Koordinaten

Memoir in Epiosoden: Der „Zeit“-Literaturchef erinnert sich an seine polnische Herkunft und bundesrepublikanische Ankunft

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„Der Westen, der Osten und ich“: das hört sich nach klaren Koordinaten an, umspielt von einer Prise Selbstironie. Doch die Qualität des neuen Buchs von Adam Soboczynski, „Traumland“, liegt eigentlich im genauen Gegenteil. Der 1975 im polnischen Torún geborene Autor und Journalist, der 1981 mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder noch vor Verhängung des Kriegsrechts in die BRD übersiedelte, vermisst mit seiner Lebensgeschichte das Schwinden der Koordinaten. Er tariert einen Verlust aus, den schwer zu benennenden Verlust bundesrepublikanischer Sicherheiten und Zukunftserwartungen.

Die Erfahrung, mit dem Umzug aus der polnischen Stadt ins westdeutsche Koblenz in „eine andere Welt, eine andere Zeit“ geraten zu sein, wird zur Urszene unterschiedlicher Wandlungs- und Zeiterfahrungen. Der Autor reagiert sensibel auf Veränderungen, insbesondere auf solche, die mit dem sowjetischen, mittlerweile russischen Imperialismus zu tun haben. „Traumland“ verbindet die eigene Lebensgeschichte mit der Kulturgeschichte der Bundesrepublik und seines Herkunftslandes. „Der Kalte Krieg war nur im Westen kalt, im Osten wurde geschossen und gemordet, sobald ein Land sich aufmachte, der Sowjetunion den Rücken zu kehren.“

Adam Soboczynski, leitender Literatur-Redakteur der „Zeit“, ist ein ausgezeichneter Erzähler. Er hat Witz, schreibt pointiert, prägnant und bildkräftig. Und doch gibt es zugleich eine gewisse Vorsicht, etwas Uneindeutiges und Ambivalentes. Das kommt den erzählenden Aspekten seines Sachbuchs zugute. Sie machen den Formatierungsstress spürbar, in den die Bundesrepublik seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geraten ist. Der Kanzler fand dafür das Schlagwort von der „Zeitenwende“.

Adam Soboczynski pflanzt kleine Tabernakel persönlicher Wende-Erfahrungen in sein Memoir. Was die oft vignettenhaft erzählten Episoden verbindet, ist der Subtext einer Vertreibung aus dem Paradies, das die Bundesrepublik realiter niemals war. Und doch wird sie dazu: durch die raffinierte Doppelbelichtung, mit der er seine Geschichte erzählt.

„Traumland“ steckt voller Geschichten, die mal von einem milden Anpassungsdruck, mal vom Wunsch nach Regeln berichten, mal das Freiheitsgefühl einer offenen Gesellschaft feiern, mal bürgerliche Tugenden als Bollwerk gegen die Auswüchse des Kapitalismus herbeisehnen. Da trägt beispielsweise der Vater die neu gekaufte Fritteuse heimlich nachts durchs Treppenhaus in die Mietwohnung, um nur ja nicht die Missgunst der Nachbarn zu erregen.

Freude am Aufstieg

Jahre später lässt er sich, vom erwachsenen Sohn auf die „Mode“ der Diskriminierungserfahrung angesprochen, nicht dazu überreden, sich selbst als diskriminiert zu empfinden. Die Freude am Aufstieg habe seinen Eltern lebenslang Schwung gegeben. Und er betont, dass seine kleinbürgerliche Herkunft zwar nichts war, mit dem sich auf dem Schulhof eines Koblenzer Gymnasiums angeben ließ, dass sie aber auch niemals Anlass für Scham gewesen sei – wie es in der autofiktionalen Literatur „Mode“ geworden ist, könnte man hinzufügen.

Wenn er als Kind mit Spielzeugautos spielte, vergnügte ihn offenbar vor allem die Regelhaftigkeit. „Die Verkehrsordnung hatte aus Kindersicht eine beruhigende Wirkung.“ Wunderbar sind die Beschreibungen, wenn die Familie in den 1980er Jahren die Sommerferien bei den Großeltern in einem polnischen Dorf verbringt.

Die „überschwängliche Küsserei“ der Großmutter findet der Junge zunächst befremdlich, um sich dann doch, langsam auf dem Sofa einschlafend, dem Gequassel der Erwachsenen hinzugeben, den Geräuschen einer anderen Welt, dem „Sich-Einfügen in die Nestwärme“, die beim nächtlichen Weg hinaus aufs Plumpsklo durch das Unheimliche gefährdet war. „Es waren Reisen in die Kinderzeit meiner Eltern. Auf dem Land war es dem fortschrittseligen Sozialismus gelungen, vor allem den Stillstand zu perfektionieren.“

Das Studium in Bonn, der Umzug nach Berlin, geradezu prototypisch zunächst nach Kreuzberg, dann nach Prenzlauer Berg, schließlich das Pendeln zwischen Berlin und Hamburg, nachdem aus der vagen Idee „irgendetwas mit Journalismus“ zu machen eine der angesehensten Positionen des Metiers geworden ist: Das ist die Karriere eines Mannes, der als Angehöriger der „Generation Golf“, wie Florian Illies die bundesrepublikanische „Generation X“ nannte, sehr wohl weiß, dass er vom „Rückenwind der 68er“ profitierte, ohne selbst politisch sein zu müssen.

„Politik störte in meiner Generation nicht, sie spielte einfach keine große Rolle.“ Der westdeutschen Figur des „Spontis“, verkörpert in einem Lehrer und einem bewunderten Professor, baut Adam Soboczynski ein liebevolles Denkmal.

„Wir lebten in goldenen Jahren der Freiheit“, wagt er die Epoche zu charakterisieren, die 1989 begann und im Februar 2022 endete. Er wundert sich, dass so viele Politiker und Intellektuelle die Freiheit nicht energisch genug verteidigten. „Liberalismus“ ist der häufigste abstrakte Begriff seines Buches. Am Ende wird aus dem „Traumland“, als das die Eltern die (alte) Bundesrepublik darstellten, um dem älteren Sohn den Umzug schmackhaft zu machen, „mein Traumschloss, der westliche Liberalismus“. Welcher Begriff von Freiheit in der weiten Spanne liberalen Denkens gemeint ist, wüsste man gerne genauer.

Mit Stefan Zweigs Erinnerungen „Die Welt von gestern“, aus denen er am Ende zitiert, wirft er einen nostalgischen Blick auf das Verlorene. Als Versprechen auf eine märchenhafte Zukunft und als untergegangenes goldenes Zeitalter wird die Bundesrepublik vielleicht doch etwas zu sehr verklärt. Dennoch hat der bekennende Romantiker, der über Kleist promoviert hat, mit dieser faszinierenden Doppelbelichtung die Literatur auf seiner Seite. Und manchmal steckt in der Verklärung als Artikulationsform des Verlusts bereits der Schwung zu etwas Neuem.

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