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Bangen vor Geisel-Freilassung in Gaza: „Schon kleine logistische Fehler können das Vertrauen zerstören“
Mit einer feierlichen Zeremonie soll am Montag die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas besiegelt werden. Doch bis zum letzten Moment lauern Risiken – auch bei der Geisel-Freilassung.
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Auf diesen Moment hat ganz Israel mehr als zwei Jahre lang gewartet: Am Montagmorgen zwischen sieben und neun Uhr (deutscher Zeit) soll die Freilassung der 20 letzten, noch lebenden Geiseln, die sich in der Gewalt der Hamas befinden, beginnen. Kämpfer der islamistischen Terrororganisation hatten sie am 7. Oktober 2023 aus Israel nach Gaza entführt.
„Wir gehen davon aus, dass alle 20 lebenden Geiseln am frühen Montagmorgen gleichzeitig an das Rote Kreuz übergeben und in sechs bis acht Fahrzeugen transportiert werden“, hatte Regierungssprecher Schosch Bedrosian am Sonntag erklärt.

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Doch wann genau die Geiseln freigelassen werden, ist unklar. Einige Angehörige wurden am frühen Morgen aufgefordert, sich zur Militärbasis Re’im nahe der Grenze zu Gaza zu begeben, berichtet der israelische Nachrichtensender Channel 12.
Demzufolge soll die Übergabe in zwei Etappen erfolgen, beginnend mit einigen Geiseln aus dem zentralen Gazastreifen um sieben Uhr morgens. Um neun Uhr sollen die übrigen lebenden Geiseln aus Khan Yunis und anderen Gebieten freigelassen werden, so der Sender.

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Zuvor hatte Israel angegeben, dass die zweite Freilassung um acht Uhr morgens stattfinden würde, kurz vor der geplanten Ankunft von US-Präsident Donald Trump. Der Grund für die Verzögerung war zunächst nicht bekannt.
Im Gegenzug will der jüdische Staat knapp 2000 Palästinenser aus israelischen Gefängnissen freilassen – darunter bis zu 250 Gefangene, die wegen Terrorangriffen zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden.

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Große Ungewissheit besteht jedoch darüber, ob Israel in den kommenden Stunden tatsächlich auch die Leichen der 28 Geiseln zurückbekommt, die als tot vermutet werden. Medienberichten zufolge könnten die massiven Zerstörungen im Gaza-Streifen verhindern, dass alle sterblichen Überreste gefunden werden.
„Leider erwarten wir, dass nicht alle verstorbenen Geiseln morgen zurückkehren werden“, hatte ein Armeevertreter am Sonntag vor Journalisten erklärt. Regierungssprecher Bedrosian kündigte die Gründung eines internationalen Gremiums an, um die sterblichen Überreste der Geiseln im Gazastreifen ausfindig zu machen, die am Montag nicht übergeben werden.
Abkommen noch für Montag geplant
Läuft alles nach Plan, könnte dieser 13. Oktober als jener Tag in die Geschichte eingehen, der das Ende von rund zwei Jahren Krieg in Gaza besiegelt. Denn: Nach dem Gefangenenaustausch soll noch an diesem Montag in Ägypten ein Abkommen über eine Waffenruhe zwischen Israel und der islamistischen Terrorgruppe Hamas unterzeichnet werden.
Zu der feierlichen Zeremonie, die am Nachmittag im ägyptischen Badeort Scharm El-Scheich stattfindet, werden Angaben der Regierung in Kairo zufolge Staats- und Regierungschefs aus mehr als 20 Ländern erwartet.
Unter ihnen sind US-Präsident Donald Trump, der den Deal ins Rollen brachte, der britische Premier Keir Starmer, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron – und auch Bundeskanzler Friedrich Merz. „Deutschland wird sich bei der Umsetzung des Friedensplans engagieren, zunächst vor allem für die Einhaltung eines stabilen Waffenstillstands und für humanitäre Hilfe“, erklärte ein Regierungssprecher am Sonntag in Berlin.
„Dass Trump bei der Zeremonie dabei sein wird, kann so interpretiert werden, dass er sich dem Plan weiter verpflichtet fühlt“, sagt Jan Busse von der Bundeswehr-Universität in München dem Tagesspiegel. „Ein direkt im Anschluss geplanter Gipfel soll dafür sorgen, dass die noch ausstehenden Schritte des Friedensplans umgesetzt werden können. Dafür braucht es eine breite internationale Beteiligung.“
„Der Gipfel in Scharm EL-Scheich soll internationale Geschlossenheit demonstrieren und eine fragile Waffenruhe politisch verankern“, meint auch Houssein al-Malla vom Giga-Institut für globale und regionale Studien. „Er gibt Trump die Gelegenheit, globale Unterstützung zu zeigen, und stärkt zugleich Ägyptens Rolle als regionaler Stabilitätsanker.“
Dass so viele internationale Spitzenpolitiker anreisen wollen, bewertet der Experte positiv: „Die Anwesenheit westlicher und arabischer Staats- und Regierungschefs erhöht die diplomatischen Kosten eines möglichen Scheiterns und signalisiert, dass eine Rückkehr zur Gewalt beide Seiten isolieren würde.“ Al-Malla betont aber auch: „Symbolik allein kann keine Umsetzung sichern. Es braucht Überwachung, klare Abläufe und anhaltende Vermittlung. Die Zeremonie schafft Momentum und Sichtbarkeit, aber erst das Nachhalten bringt Substanz.“
Erleichterung – und bange Ungewissheit
Tatsächlich sind die Hürden hin zu einem dauerhaften Frieden noch gewaltig. Zwar schweigen die Waffen bereits seit Freitag. So groß wie aktuell war die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt in den beiden kriegsgeplagten Gesellschaften wohl noch nie in den vergangenen 24 Monaten.
In Tel Aviv bejubelten am Samstag rund 400.000 Menschen bei einer Kundgebung den US-Sondergesandten Steve Witkoff sowie Trumps Tochter Ivanka und ihren Ehemann Jared Kushner – aus Dankbarkeit für das Engagement der Vereinigten Staaten.

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Fotos aus Gaza zeigen derweil lange Kolonnen aus Autos und Menschen, die sich durch den völlig zerstörten Küstenstreifen bewegen. Angaben des von der Hamas kontrollierten Zivilschutzes sind seit Freitag mehr als 300.000 Menschen in den Norden Gazas zurückgekehrt. Auch hier ist die Erleichterung groß – wenngleich die Folgen der verheerenden israelischen Angriffe, die Zehntausende Palästinenser töteten und viele Gebiete in Schutt und Asche legten, noch lange nachwirken werden.

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Doch viele Fragen zum Friedensabkommen sind noch ungeklärt.
Es ist nicht auszuschließen, dass sich Israel weigert, seine Truppen weiter aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, wenn die Entwaffnung der Hamas nicht gelingt.
Jan Busse, Experte für internationale Beziehungen und Konfliktforschung
Unklar ist darüber hinaus, wie es nach dem Gefangenenaustausch weitergehen wird. Denn auf viele Details, die Trumps Friedensplan vorsieht, konnten sich beide Seiten bislang nicht einigen. Sie sollen erst in einer zweiten Verhandlungsphase geklärt werden. Die Waffenruhe bleibt also fragil.
Am Sonntag kündigte Israels Verteidigungsminister Israel Katz an, dass sein Land ungeachtet der Feuerpause in den kommenden Tagen und Wochen die Zerstörung von Hamas-Tunneln fortsetzen wolle. Ein Hamas-Vertreter wiederum sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass eine Entwaffnung für seine Gruppe „nicht infrage“ komme.
Noch kann der Deal scheitern
„Dass die Frage der Entwaffnung der Hamas eine zentrale Streitfrage darstellt, war von Anfang an klar“, sagt Jan Busse: „So ist nicht auszuschließen, dass sich Israel weigert, seine Truppen weiter aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, wenn die Entwaffnung der Hamas nicht gelingt.“
Den bevorstehenden Gefangenenaustausch sieht der Experte für internationale Beziehungen und Konfliktforschung durch die jüngsten Hamas-Äußerungen aber nicht in Gefahr. „Es deutet aktuell alles darauf hin, dass der erste Teil des Plans – also der Austausch von Geiseln beziehungsweise Gefangenen – gelingt.“
Politikwissenschaftler al-Malla ist sich da nicht ganz so sicher. Der Austausch könne ins Stocken geraten, falls der Streit um einzelne Differenzen eskalieren sollte. Überhaupt lauerten bis zum letzten Moment Fallstricke, betont er: „In den letzten Stunden scheitern solche Prozesse oft am Streit über die Reihenfolge – also wer zuerst handelt, an Verfahrensfragen oder an Verzögerungen, etwa bei der Übergabe von Leichnamen.“ Er fügt hinzu: „Schon kleine logistische Fehler – verspätete Transfers, fehlende Verifizierung, widersprüchliche Listen – können das Vertrauen zerstören.“
Langfristig sieht der Wissenschaftler eines der größten Risiken darin, dass es keinen klaren Plan für Gazas Verwaltung oder den Wiederaufbau geben könnte. „Ein Abkommen, das technisch funktioniert, aber politisch leer bleibt, hält selten lange“, sagt al-Malla. „Das Schwierigste beginnt nach dem Händedruck.“
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