zum Hauptinhalt

Berlin: 4.November wichtiger als Tag der Maueröffnung

Pastor Schorlemmersprach damals auf dem Alex – es ging um ein Ende der Diktatur, nicht um die Einheit

Als Sie am 4. November auf dem Alexanderplatz zu Toleranz und Friedfertigkeit aufriefen – hatten Sie da eine Ahnung, was fünf Tage später geschehen würde?

Keine besondere. Und ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch nicht die geringste Sehnsucht nach dem, was man heute fälschlicherweise den Mauerfall nennt.

Fälschlicherweise?

Die SED wollte in die Geschichte als diejenige Kraft eingehen, die das Öffnen der Mauer veranlasst hat. Aber das ist falsch. In Wahrheit konnten Krenz und Genossen nur noch verhindern, dass die Mauer gestürmt wurde. In Wahrheit nahm sich das Volk das Recht, die Mauer zu überwinden. In Wahrheit war es kein „Mauerfall“, sondern ein Mauerdurchbruch.

Würden Sie heute die gleiche Rede halten wie am 4. November 1989?

Ja. Ich bin sehr froh, dabei gewesen zu sein. Für mich bleibt der 4. ein wichtigeres Datum als der 9. November.

Warum?

Weil damals das „D“ noch für Demokratie stand und nicht für „Deutschland“ oder „D-Mark“. Der 4. November war der Tag, an dem – und das ist selten in der deutschen Geschichte – ein demokratischer Aufbruch passierte. Vertreter dieses kleinen Völkchens beendeten mit Klarheit, Konsequenz und menschlicher Fairness den Machtanspruch der SED und damit eine Diktatur.

Hatten Sie Angst?

Wir hatten alle Angst. Die einen vor der noch bewaffneten Staatsmacht und ihren Vasallen, die in großer Zahl in Zivil an der Kundgebung teilnahmen. Die anderen vor dem Volk. Günter Schabowski hat in seiner Schnoddrigkeit zu mir gesagt: „Ich muss jetzt da hoch aufs Rednerpult, Pastor. Segnen Sie mich mal!“ Ich habe es nicht getan, auch wenn er das hinterher manchmal behauptete.

Hat es Sie gestört, mit Leuten wie Schabowski auf der gleichen Demo zu sprechen?

Schabowski war und ist für mich der Prototyp des zynischen Wendehalses. Aber Gregor Gysi und Lothar Bisky beispielsweise waren für mich glaubwürdig. Sie wollten wirklich Reformen, wie viele andere SED-Leute, die dabei waren.

Die deutsche Einheit war kein Thema?

Nur im Kontext einer europäischen Einigung à la Gorbatschow. Es ging uns zunächst um eine demokratisierte DDR.

Aber das Volk wollte offenbar anderes als die Hunderttausenden auf dem Alex.

Man kann es den Ostdeutschen nicht vorwerfen, dass sie die SED und die DDR ein für alle Mal loswerden wollten. Und wahrscheinlich gibt es in jedem Volk eine kleine Zahl Menschen, denen Mündigkeit und Freiheit lebenswichtig sind. Den meisten reicht offenbar, wenn die Kasse stimmt. Nach dem 9. November kam „das Volk“, das sich nur das Maul stopfen lassen will, egal von wem. Das Volk, das sich jetzt auf RTL im „Dschungelcamp“ von der Arbeitslosigkeit ablenken lässt.

Bedauern Sie den 9. November?

Natürlich nicht. Für mich ist es nach wie vor fast ein Wunder, dass die Grenzer trotz anderslautender Befehle nicht schossen. Am 4. November wäre niemand auf die Idee gekommen, Unter den Linden einfach in Richtung Westen zu marschieren. Damals blieben wir bei uns selbst.

Das Gespräch führte Sandra Dassler

Friedrich Schorlemmer (60) rief am 4.November: „Lasset die Geister aufeinanderplatzen, aber die Fäuste haltet stille!“. Er ist Studienleiter an der Evangelischen Akademie Wittenberg.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false