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© dpa/Fabian Sommer

Abwarten statt Leben retten: Berlin handelt zu langsam beim Gewaltschutz für Frauen

Fallkonferenzen können in Hochrisikofällen Frauen vor Gewalt schützen. In Berlin braucht es endlich den politischen Willen, das schnell umzusetzen.

Anna Thewalt
Ein Kommentar von Anna Thewalt

Stand:

Berlin ist mal wieder langsam. In diesem Fall: fahrlässig langsam. Noch immer gibt es keine institutionalisierte Form der Fallkonferenz, die Frauen vor Gewalt und im äußersten Fall sogar vor dem Tod schützt. Denn was sperrig klingt, rettet in Extremfällen Leben. Wenn Frauen von Partnern oder Ex-Partnern bedroht werden, ist eine möglichst umfassende Einschätzung der Gefährdungslage notwendig.

Dazu ist es nachweislich sinnvoll, dass Polizei, Justiz, Jugendamt und Beratungsstellen ihren Wissensstand miteinander teilen, um ein möglichst genaues Bild der Situation zu bekommen. Es handelt sich hier nicht um ein Randphänomen: Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland eine Frau Opfer häuslicher Gewalt.

Die Innenverwaltung antwortet auf die Frage, ob es Fallkonferenzen in Berlin gebe, ausweichend – es bestehe bereits eine „enge Zusammenarbeit“ zwischen der Polizei und allen involvierten Behörden, Verwaltungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, heißt es. Gleichstellungssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) spricht davon, Fallkonferenzen „zu verbessern“. Beide Aussagen verschleiern, dass es Fallkonferenzen als etablierte Institution in Berlin noch gar nicht gibt. Und machen wenig Hoffnung, dass sich zeitnah etwas ändern wird. Denn dazu müsste man erst einmal den Ist-Zustand anerkennen.

Andere Bundesländer sind schon viel weiter. Ein nüchterner Vergleich mit Rheinland-Pfalz lohnt. Dort finden seit 2014/2015 Fallkonferenzen statt. Von Beauftragung bis Ende eines Pilotprojekts zu den Fallkonferenzen dauerte es anderthalb Jahre. Schon währenddessen wurde ein Rahmenkonzept vorgelegt, was genaue Angaben auch zu den datenschutzrechtlichen Regeln beinhaltete.

Seit 2015 wurde die Arbeit verstetigt und ausgebaut, landesweit gibt es in Rheinland-Pfalz aktuell 18 Interventionsstellen. Laut einer Studie der Universität Koblenz-Landau aus 2016 liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es nach einer Fallkonferenz zu einem erneuten Vorfall kommt, bei 20 Prozent – statt bei 42 Prozent bei Fällen ohne Konferenz.

Berliner Arbeitsgruppe trifft sich sechs Mal in anderthalb Jahren

Und Berlin? Vor über zwei Jahren, Ende August 2022, verabschiedete der damals rot-grün-rote Senat ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Verhinderung von Femiziden. Darin enthalten: Behördenübergreifende Fallkonferenzen unter Einbeziehung von nichtstaatlichen Institutionen. Im Mai 2022 hatte der Fall der sechsfachen Mutter Zohra G., die von ihrem Ex-Mann auf der Straße erstochen worden war, großes Entsetzen ausgelöst.

Datenschutz kann nicht als Ausrede dienen, noch länger zu warten. Voraussetzung für eine Umsetzung ist lediglich der politische Willen des Senats.

Anna Thewalt, Tagesspiegel-Redakteurin

Eine Anfang 2023 gegründete Arbeitsgruppe „Hochrisikokonferenzen und Gefährdungsmanagement“ hat seitdem sechs Mal getagt, zwei Mal davon in diesem Jahr. Beteiligt sind neben Innen- und Gleichstellungsverwaltung sowie der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen die Bildungs- und Justizverwaltung, das Landeskriminalamt sowie Jugend- und Bezirksämter.

Dass es nur schleppend vorangeht, könnte auch daran liegen, dass sich mal wieder keiner federführend verantwortlich fühlt. Der Verdacht liegt nahe. Laut den Senatsverwaltungen werden aktuell Datenschutzregeln ins Konzept eingearbeitet. Das ist zweifelsohne komplex: Polizeigesetz, Datenschutzgesetz, Sozialgesetzgebung berühren sich hier, für jede Stelle gibt es andere Vorgaben.

Dennoch: Rheinland-Pfalz und inzwischen auch andere Länder haben vorgemacht, dass es geht. Das Polizeigesetz bietet einen rechtlichen Rahmen, zudem gilt dort wie auch in Berlin geplant: Es braucht die Zustimmung der Betroffenen. Die oberste Handlungsmaxime: Gefahrenabwehr in akuter Notsituation. Wer sich davon leiten lässt, kann auch den Spielraum von Datenschutzregeln sinnvoll nutzen.

Dass die Koalition eine Anpassung im Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz plant, das zu mehr rechtlicher Sicherheit führen soll, ist gut. Aber das kann nicht als Ausrede dienen, noch länger zu warten. Voraussetzung für eine Umsetzung ist lediglich der politische Willen des Senats.

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