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Nadine Hartung mit ihrem Kollegen Carsten Bass.

© Kai-Uwe Heinrich

Angriff auf Polizistin in Berlin-Karow: "Kein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr"

Eine Berliner Polizistin wird von einer Autofahrerin drangsaliert – mehrfach und vor Zeugen. Die Justiz sieht keinen Grund, den Fall zu verfolgen.

Nadine Hartung hat beruflich viel mit Verkehrsrowdies zu tun. Insofern kommt der erste Angriff für sie nicht völlig überraschend, als sie an jenem Vormittag im November 2016 wie üblich die 29 Kilometer zur Arbeit radelt, auf der Blankenburger Chaussee durch Karow stadteinwärts. Auf der Fahrbahn, weil der – ohnehin nicht benutzungspflichtige – Radweg mit den vielen Ausfahrten und losen Platten für ihre flotten 25 Stundenkilometer ungeeignet ist.

Nötigung, gefährliche Körperverletzung, Widerstand

Hinter der Beuthener Straße setzt sich ein Opel knapp neben sie, durchs offene Seitenfenster brüllt eine Frau: „Fahr auf dem Radweg!“ und komplettiert ihre Belehrung, indem sie Nadine Hartung derart schneidet, dass die nur dank einer Vollbremsung nicht zwischen Auto und Bordstein stürzt.

Die Radlerin tritt noch flotter in die Pedale, um die Autofahrerin im Stau vor der nächsten Kreuzung anzusprechen. Doch dort sind die Autoscheiben geschlossen, die Fahrerin starrt geradeaus, reagiert nicht auf Klopfen. Stattdessen rückt sie mit offenbar mutwillig aufheulendem Motor Autolängen vor. Woraufhin die bisher zivile Radfahrerin sich in den Dienst versetzt. An der Autoscheibe gibt sich nun die Polizeikommissarin Hartung zu erkennen. Sie fordert die Papiere der Fahrerin.

Spätestens in diesem Moment wäre sich ein Mensch mit Skrupeln wohl darüber klar geworden, dass es teuer werden kann. Doch die Autofahrerin zeigt der Polizistin einen Vogel, ruft, dass sie gefälligst den Radweg benutzen und abhauen solle, und rückt im Stau weiter vor.

Nadine Hartung, nach 20 Außendienstjahren bei der Polizei, davon dreieinhalb bei der Fahrradstaffel, weiß Gott nicht mehr leicht zu erschüttern, legt also ihr Fahrrad vor den Opel, hält der Fahrerin ihren Dienstausweis an die Scheibe und fordert sie auf, auszusteigen.

Die Opelfahrerin wirft das Rad über den Bordstein

In diesem Moment naht auf der Gegenfahrbahn ein Rettungswagen mit Blaulicht. Offenbar hat jemand das Fahrrad auf der Straße liegen sehen und die Sanitäter alarmiert. Nachdem auch die Feuerwehrbeamten vergeblich auf die Autofahrerin eingeredet haben, alarmiert Hartung über Notruf ihre Kollegen, die sofort einen Streifenwagen schicken.

Während die Sanitäter mit dem Rettungswagen wegfahren, steigt die Opelfahrerin plötzlich aus. Wirft das Fahrrad an den Bordstein und steigt unter dem Protest der Polizistin wieder ein. Nadine Hartung hätte sie buchstäblich im Handumdrehen festnehmen können, was ihr aber bei einer augenscheinlich im Rentenalter befindlichen Frau übertrieben schien.

Doch die versucht nun, mit heulendem Motor das Fahrrad zu umkurven – und stößt der Polizistin, die sich vors Auto gestellt und die Hände auf die Motorhaube gelegt hatte, mehrfach gegen die Schienbeine. Sie schiebt sie, sodass die Fahrradschuhe über den nassen Asphalt rutschen. Als Hartung erkennt, dass die Frau sie gleich überfahren würde, springt sie zur Seite. Erneut ruft sie die 110, um den Opel stoppen zu lassen. Eine entsetzte Passantin eilt herbei und meldet sich als Zeugin.

Während die Polizisten des einen Streifenwagens die Anzeige aufnehmen, kommen die aus dem anderen hinzu und berichten, dass die zwischenzeitlich gestoppte Opelfahrerin gesagt habe, sie wisse nicht, was man von ihr wolle und wie ein Polizeiausweis aussehe.

"Ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht nicht"

Zitternd und mit rasendem Puls radelt Nadine Hartung zum Dienst. Ihre Schienbeine schmerzen, die Kettenschaltung an ihrem Rad ist vom Wegwerfen verbogen und rattert.

Unter den Augen von Zeugen hatte die Autofahrerin Straftaten begangen – Nötigung, gefährliche Körperverletzung, Widerstand –, für die Gerichte bei Ersttätern erfahrungsgemäß etwa ein Monatseinkommen Geldbuße plus Fahrverbot verhängen. Diese Richtwerte nennt einer ihrer Kollegen, der wie sie als Verkehrspolizist regelmäßig als Zeuge vor Gericht geladen wird, wenn über Rowdies verhandelt wird. Polizeibeamte gelten als besonders glaubwürdige Zeugen. Irgendwann würde die Sache also ein angemessenes Ende finden, dachte Nadine Hartung, die neuerdings schlecht schlief.

Am 9. November 2017, genau 373 Tage nach der Tat, teilte ihr die Staatsanwaltschaft in fünf Zeilen mit, dass das Verfahren wegen Nötigung – die anderen Straftaten wurden gar nicht thematisiert – gegen die Autofahrerin eingestellt worden sei. „Weil die Schuld als gering anzusehen wäre und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht besteht.“ Die Beschuldigte sei nicht vorbestraft und „durch das bisherige Verfahren für die Zukunft hinreichend gewarnt“.

Nadine Hartung hielt die Entscheidung für den Irrtum einer in Aktenbergen versinkenden Staatsanwältin. Sie legte Beschwerde ein – die wiederum erfolglos blieb: Mit geringem Tempo auf Fußgänger zuzuhalten, sei kein „gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ (der gar nicht zur Debatte stand) und keine Körperverletzung. Auch habe die Autofahrerin erklärt, sie habe keinen Dienstausweis gesehen und das Fahrrad nur zur Seite geschoben. Also auch kein Widerstand und keine Sachbeschädigung.

Wie diese Einschätzung des Falles zustande kam, ließ die Anklagebehörde auch auf zweimalige Anfrage des Tagesspiegels unbeantwortet.

Seitdem gibt es zwei Geschichten von jenem Tag. Die eine kursiert in der Polizei, deren Beamte sich täglich teils unter Lebensgefahr bemühen, die Stadt vor Leuten wie jener Autofahrerin zu schützen. Es ist die Geschichte einer Staatsanwältin, die nur der Beschuldigten glaubt und den Rechtsstaat zu sabotieren scheint. Jenen Rechtsstaat, der Zehn-Euro-Knöllchen verfolgt bis zum bitteren Ende.

Die andere Geschichte kann die Autofahrerin erzählen. Die Geschichte von der blöden Kuh mit dem Fahrrad, der sie mal so richtig gezeigt habe, für wen die Straße da sei. Was ja offenbar in Ordnung war, wie das eingestellte Verfahren zeigt.

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