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In Berlin erzählen sich die Menschen seit Jahrhunderten Geschichten von Übernatürlichem und Jenseitigem – von Riesen in den Müggelbergen etwa oder Todesbotinnen bei den Hohenzollern.

© imago images/chainatp

Weiße Frauen, schwarze Mönche: Berlin, Hauptstadt der Gänsehaut

Geistergeschichten sind nicht nur zu Halloween gefragt. Spaziergänge zu den Stätten des Schreckens gibt es jetzt als Buch.

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Am Haupteingang der Marienkirche in Mitte erinnert ein Steinkreuz an einen Lynchmord aus dem frühen 14. Jahrhundert. Propst Nikolaus von Bernau war dem lange schwelenden Konflikt Berlins mit dem Vatikan zum Opfer gefallen: Er hatte sich bei einer Predigt zu weit aus der Kanzel gelehnt, das hatten die Berliner ihm übelgenommen. Papst Johannes XXII. verbot daraufhin die fürs Seelenheil doch unabdingbaren Gottesdienste – eine Strafe, von der sich die Berliner durch eine hohe Geldsumme und die Errichtung eines Sühnekreuzes freikaufen mussten.

An sich eine profane Angelegenheit, nichts, bei dem Übersinnliches, Spukhaftes eine Rolle spielte – wären da nicht die fünf Löcher im Kreuz, angeordnet wie die Augen auf einem Würfel. In ihnen war das Ewige Licht befestigt, doch gibt es dazu eine weitere Geschichte: Gelänge es, die Finger einer Hand in die fünf Löcher zu stecken, würde sich die Kirche um sich selbst drehen.

Zum Glück ist dieser Langfinger-Trick anatomisch unmöglich. Jedenfalls seit vor langer Zeit der in den Müggelbergen hausende Riese, der letzte seines Geschlechts, von Berlinern – ja, schon wieder – erschlagen wurde. Er hatte eine junge Berlinerin geraubt, dafür musste er büßen.

Leider erwies sich der Leichnam als zu groß für hiesige Friedhöfe, wurde daher zerstückelt und auf mehrere Gottesäcker verteilt. Ein Schulterblatt samt Rippe aber wurde aufbewahrt, zierte die Fassade des Gasthofs „Zur Rippe“ in der Poststraße in Mitte, überdauerte sogar dessen Abriss und Rekonstruktion, nun als Nachbildung, während das Original im Märkischen Museum verschwand. Nun gut, die Skelettteile erwiesen sich später als Knochen eines Grönlandwals.

Schon ein wenig gegruselt? Das ist in virenverseuchten Zeiten nichts Besonderes, doch nimmt der Bedarf an Gänsehaut und gesträubtem Nackenhaar dieser Tage noch einmal zu. Halloween naht, die Gespensternacht. Horden kleiner Gespenster werden am Abend des 31. Oktober auf der Jagd nach schmackhafter Beute wohl auch dieses Jahr durch die Straßen ziehen, trotz geltender Abstandsgebote.

Spaziergänge zu den Stätten des Schreckens

Mit den Infektionsschutzregeln konform sind hingegen Spaziergänge zu den Orten der Berliner Gespenster, den Stätten des Schreckens, wo es zwar keine Süßigkeiten zu erbeuten gibt, aber doch jede Menge Gruselgeschichten geboten werden. „Berliner Spaziergänge“ heißt eine Reihe des Elsengold Verlags, der rechtzeitig zu Halloween den Band „Grusel in Berlin“ herausgebracht hat, von dem als Stadtführer erprobten Autor Armin A. Woy „auf der Grundlage von Legenden und historischen Begebenheiten zusammengestellt und bearbeitet“, wie es etwas lapidar heißt.

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Wobei Legende und Historie oft eng verwoben sind: Nikolaus von Bernau musste wirklich dran glauben, der Fingerzauber verdankt sich dem alten, allem Übernatürlichem und Jenseitigem zugeneigten Berliner Volksglauben.

Der blühte in allen Regionen des Landes, ja der Welt, und leider muss man sagen: Er blüht wieder, gerade in Berlin, wo der lange unauffällige Baal-Altar im Pergamonmuseum einigen Zeitgenossen plötzlich als „Thron des Satans“ gilt. Der Legende nach wurde der Teufel allerdings in der Brüderstraße gesichtet, versuchte dort durch das Trugbild eines schönen Mädchens Zwietracht zwischen vier Brüder zu sähen – vergeblich: Um auch weiteren Versuchungen zu widerstehen, gründeten sie ein Kloster, traten selbst als erste Mönche ein – der sagenhafte Ursprung des von Dominikanern, den „Schwarzen Brüdern“, gegründeten Klosters, von dem nur der Straßenname die Jahrhunderte überdauert hat.

Armin A. Woy: Grusel in Berlin. Berliner Spaziergänge. Elsengold Verlag, Berlin. 66 Seiten, 50 Abbildungen, 5 Euro.

© Promo

Aber Berlins berühmtestes Gespenst bleibt doch die Weiße Frau der Hohenzollern, die das Adelsgeschlecht schon vor ihrem Umzug nach Berlin plagte, als Wiedergängerin einer liebestollen, selbst vor Mord an ihren beiden Kindern nicht zurückschreckenden Adeligen, die so den von ihr auserkorenen Hohenzollernprinzen zu erlangen hoffte, vergeblich.

Wiederholt soll sie im Berliner Schloss gesichtet worden sein, tat sich dabei unrühmlich als Todesbotin des amtierenden Kurfürsten oder Königs hervor. Zuletzt soll sie 1940 aufgetaucht sein, da waren die Hohenzollern längst ausgezogen.

Bei Gewitter zum Tanzvergnügen? Bloß nicht

Weiß hat sich ohnehin in Berlin als beliebteste Gespensterfarbe bestätigt, wie auch in Schloss Monbijou – als es noch stand – zu erleben war. Immer in der Nacht auf den 24. Juni sollen dort eine junge wehklagende Frau und fünf weiße Ratten ihren Spuk getrieben haben – Folge eines Frevels der Gärtnersfrau, die sich in einer Gewitternacht einem Tanzvergnügen hingegeben und ihre verängstigten fünf Kinder danach noch verspottet haben soll. Tanzen trotz allgemeiner Gefahrenlage hatte schon früher fatale Folgen.

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Der Autor hat sein Büchlein, dem leider keine Karten beigegeben sind und das er nicht unbedingt in dem von ihm gewählten altertümelnden Stil hätte verfassen müssen, in fünf Spaziergänge gegliedert. Sie führen nicht immer zu spukhaften Orten, sondern oft auch zu Stätten realen Schreckens, wie ja ohnehin das, was Menschen einander antun, oft den Grausamkeiten vermeintlicher Gespenster kaum nachsteht, ja diese gar übertrifft.

Etwa im Fall des Juden Lippold, des Münzmeisters von Joachim II.: Nach dem Tod des Kurfürsten war er dessen Sohn im Wege, nicht zuletzt wegen der hohen Schulden, die der Vater hinterlassen hatte. Man bezichtigte Lippold der Unterschlagung, ja des Mordes am Kurfürsten und der Zauberei. Verbrechen, die er auf Folter gestand.

Am 28. Januar 1573 wurde Lippold auf dem Neuen Markt, dort, wo sich heute der Neptunbrunnen befindet, gerädert und gevierteilt, die Eingeweide wurden verbrannt, die Körperteile an den wichtigsten Straßen aufgehängt und der Kopf am Georgentor, nahe dem heutigen Alexanderplatz, auf eine Stange gespießt. Gegen solchen Schrecken kommt keine Weiße Frau an.

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