
© F.A. Schwartz
Als die Linden leise litten: Das Gas-Problem an Berlins Prachtboulevard
In Folge 27 unserer Kolumne „Aus der Zeit“ über Berlins Wirtschaftsgeschichte geht es um ein Umweltproblem des 19. Jahrhunderts auf der Straße Unter den Linden.

Stand:
Berlin gilt als eine der grünsten Hauptstädte der Welt: Überall gibt es Parks, begrünte Straßen, Plätze und sogar Wälder im Stadtgebiet. Auch die 224 Friedhöfe zählen dazu – die teilweise auch zum öffentlichen Raum gehören.
Es gibt öffentliche „Stadtbäume“, die vom Land Berlin betreut werden, dazu kommen die „Anlagenbäume“, um deren Pflege sich die zwölf Bezirke kümmern. Davon sind in Berlin 759 859 Stück „gemeldet“. Hinzu kommen geschätzte 20 Millionen Eichen, Buchen und andere Bäume, die in Berliner Forsten stehen. Und die ungezählten Bäume auf Privatgrundstücken.
Aber Masse ist nicht Klasse. Vielen Berliner Bäumen ist mit den Jahren janz blümerant geworden: Die Zahl der Hitzetage steigt, das Grundwasser fällt. Wer am Klimawandel durch Industrialisierung noch zweifelt, muss beim nächsten Spaziergang nur mal genauer hinschauen.

© Sammlung von Staatsbibliothek Berlin
Berlins berühmtesten Bäumen ging es schon in der frühen Phase der Industrialisierung dreckig. Sie standen entlang der Straße Unter den Linden. Angelegt als Reitpfad im 16. Jahrhundert, wurden dort in den 1670er-Jahren erstmals Linden im Spalier gepflanzt. Die Schattenspender säumten die Straße, die das Stadtschloss und das kurfürstliche Jagdrevier im Tiergarten verband.

© Sammlung Stiftung Stadtmuseum Berlin
Bis sich der Weg zur festen Straße und schließlich zum „Prachtboulevard“ entwickelte, dauerte es noch mal fast 200 Jahre. Und auch damals gefiel es nicht jedem. Im Juni 1863 notierte die famose Hildegard von Spitzemberg in ihren Tagebüchern: „Außer den schönen Läden fand ich sehr wenig zu bewundern (…); die Leute sind entsetzlich unelegant und uninteressant, und die Linden so klein und mager und so voll Staub, dass sie nicht grün, sondern grau aussehen“.

© Anagoria Märkisches Museum
Im September 1874 erfuhr man sogar in Amerika von Berlins Linden, die offenbar Opfer des technischen Fortschritts wurden. In der „Chicago Tribune“ hieß es: „Die grandiose zentral-gelegene Straße […], fast zwei Meilen lang und drei-viertel Meile breit, die sich zwischen dem alten Stadtschloss auf der Insel und dem Brandenburger Tor erstreckt“, säume „ein trostloser Haufen von elenden, struppigen, verkümmerten Bäumen ohne jegliche Schönheit.“
Als Ursache hat der Autor des Artikels, Joseph Medill, Chefredakteur der Zeitung und zeitweilig Chicagos Bürgermeister, die „verderblichen Dämpfe, die aus den unterirdisch verlegten Gasrohren ausscheiden“ recherchiert. Die Abgase, die aus den undichten und noch relativ primitiven Gasleitungen zu den Gebäuden und Laternen strömten, dürften Ursache für das Verkümmern der Bäume gewesen sein.

© Judit Lőrincze, via Fortepan
Als die Gasbeleuchtung durch die elektrische ersetzt wurde, erholten sich die Linden bald. Mitte der 1930er-Jahre rückten die Nazis mit Sägen und Äxten an der Straße Unter den Linden an, um Berlins Zentrum vor den Olympischen Spielen 1936 neu zu gestalten. Es wuchsen zwar später neue Bäume heran, sie wurden bis 1945 Opfer der nächsten „Neugestaltung“.
Diese Kolumne über Berlins Wirtschaftsgeschichte erscheint jeden Samstag im gedruckten Tagesspiegel.
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