
© dpa/Soeren Stache
Bündnis schlägt Alarm: Dramatischer Mangel an Sozialwohnungen in Berlin
Laut dem Verbändebündnis „Soziales Wohnen“ steckt Berlin in einer Sozialwohnungskrise: Der Bestand schrumpft drastisch. IG-Bau-Chef Feiger plädiert für eine Absenkung der Baustandards.
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Steigende Mieten, zurückgehende Neubautätigkeit, zunehmende Altersarmut angesichts der demografischen Entwicklung – der heute schon eklatante Mangel an Sozialwohnungen wird in den kommenden Jahren zu einer sozial kaum noch steuerbaren Größe in der Gesellschaft.
Steigen die Sozialausgaben, ohne dass damit die Zahl an Sozialwohnungen korrespondiert, entstehen dem Staat schwer kalkulierbare Summen, die er für die Unterstützung bei der Miete ausgeben muss. Er bezahlt Mieten in Milliardenhöhe – Monat für Monat: Wohngeld und Kosten der Unterkunft – als notwendige Unterstützung für bedürftige Haushalte.
Bundesweit fehlen 550.000 Wohnungen
Nach überschlägigen Berechnungen des Verbändebündnisses „Soziales Wohnen“ fehlen bundesweit rund 550.000 Wohnungen, davon allein in Berlin 35.000 bezahlbare Wohnungen und Sozialwohnungen – Tendenz steigend. Zum Verbändebündnis gehören als Mitglieder der Deutsche Mieterbund (DMB), die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) und die Bau-Gewerkschaft (IG BAU). Ebenso gehören dazu die Bundesverbände der Mauerstein-Industrie und des Baustoff-Fachhandels.
„Würde der Staat die Menschen, die einen Anspruch auf eine Sozialwohnung haben, tatsächlich versorgen, dann wären bundesweit sogar rund 5,6 Millionen (Berlin: 840.000) Sozialwohnungen notwendig“, sagte Studienleiter Matthias Günther, Chefökonom des Pestel-Instituts (Hannover) am Mittwoch. Er sprach von einem „chronischen Burnout am Sozialwohnungsmarkt“.
Janina Bessenich, Geschäftsführerin der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie, sagte am Mittwoch: „Sowohl die letzte Bundesregierung als auch die jetzige Bundesregierung haben es nicht geschafft, tatsächlich diesen Zustand mindestens zu stoppen. Versprochen waren 100.000 Sozialwohnungen, daraus sind ungefähr 23.000 pro Jahr geworden. Und wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dann brauchen wir 40 Jahre.“ Sie würde nicht von einem Burnout, sondern von einer Depression sprechen.
Die Situation wird nicht besser. In einer Umfrage des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) unter 700 Fachleuten schätzt die Mehrheit der Befragten die Aussichten für den Neubau weiterhin pessimistisch ein, allerdings mit einer nachlassenden Dynamik. 57 Prozent rechnen für das erste Halbjahr 2025 mit rückläufigen Fertigstellungszahlen im Mietwohnungsbau.
„Zum Stand 31. Dezember 2024 gab es in Berlin 85.765 Sozialmietwohnungen“, sagte Martin Pallgen, Sprecher der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Wohnen und Bauen auf Anfrage. Seinen Angaben zufolge verloren 19.552 Sozialmietwohnungen in den Jahren 2019 bis 2023 ihre Belegungsbindung. Fertiggestellt – respektive durch Neubau ersetzt – wurden im gleichen Zeitraum 11.023 Sozialmietwohnungen.
Hunderttausende Babyboomer werden in den kommenden Jahren zusätzlich auf eine Sozialwohnung angewiesen sein.
Matthias Günther, Chef-Ökonom und Studienleiter des Pestel-Instituts (Hannover)
Dies zeigt, dass Berlin nicht einmal ansatzweise mit dem Neubau von Sozialwohnungen hinterherkommt: Allein 2024 und 2025 gibt es knapp 12.100 Sozialmietwohnungen weniger, während der Bedarf steigt. Nach Angaben der Senatsbauverwaltung gehen 2026 rund 2200 Wohnungen aus der Bindung; im darauffolgenden Jahr 2027 noch einmal 3798. Besonders drastisch wird die Situation gegen Ende des Jahrzehnts in der Hauptstadt: 2028 gehen 6266 Wohnungen vom Netz, 2029 sind es 7459 und 2030 dann 4941.
Günther legte am Mittwoch in Berlin die Studie „Das Bauen und Wohnen in Deutschland sozial neu justieren“ vor, das sein Institut gemeinsam mit dem Bauforschungsinstitut ARGE (Kiel) des Landes Schleswig-Holstein im Auftrag von „Soziales Wohnen“ erarbeitet hatte.
Statt der Förderung von politisch angestrebten 100.000 neuen Sozialwohnungen pro Jahr deutschlandweit seien im Jahr 2023 nur für 23.115 Wohnungen Förderzusagen erteilt worden, kritisierte das Verbändebündnis: „Das waren weniger Zusagen für den Sozialwohnungsbau als im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2022.“ Um den Ausfall von Sozialwohnungen aufzuhalten, plädiert „Soziales Wohnen“ für die zusätzliche Schaffung oder Verlängerung von 75.000 Mietpreis- und Belegungsbindungen im Bestand.
Bedarf von 100.000 neuen Sozialwohnungen jährlich
Für den notwendigen Bedarf von 100.000 jährlich neu zu bauenden Sozialwohnungen seien grundgesetzlich abgesicherte investive Mittel für die Neubauförderung notwendig. Das Bündnis nannte eine Zahl in Höhe von elf Milliarden Euro im Rahmen einer Bund-Länder-Förderung. Diese Investitionen müssten von der Schuldenbremse ausgenommen werden.
Mindestens zehn Prozent des jährlich fertiggestellten Wohnraums seien als Kontingent für Bedürftige vorzuhalten. „Hunderttausende Babyboomer werden in den kommenden Jahren zusätzlich auf eine Sozialwohnung angewiesen sein“, sagt Matthias Günther. Die Babyboomer gehen bis 2035 komplett in Rente. „Bei vielen von ihnen gab es immer wieder Phasen von Arbeitslosigkeit. Außerdem waren die geburtenstarken Jahrgänge die, die oft zum Niedriglohn gearbeitet haben“, sagt der Ökonom.
Sozialer Wohnungsbau wegen der Normen zu teuer
Die Bündnis-Mitglieder forderten zudem einen ermäßigten Steuersatz von sieben Prozent auf alle Bauleistungen für neue Wohngebäude, in denen mehr als zwei Drittel der Wohnungen Sozialwohnungen sind. Und sie fordern eine Absenkung der Baustandards. Dazu zählen nach ARGE-Angaben zum Beispiel zu kräftige Wand- und Deckenstärken, dreifach verglaste Fenster, überzogener Klima- und Lärmschutz, Kellerräume und auch Tiefgaragenplätze. „Sie können natürlich immer eine technische High-End-Anwendung installieren. Die ist extrem teuer. Das macht das Bauen auch extrem teuer“, sagte dazu IG-Bau-Chef Robert Feiger im Deutschlandfunk am Mittwochmorgen.
Stadtplaner: Fehlentwicklung und Versäumnis in Berlin und im Bund
„Das Paradoxe ist: Der Bund hat dabei sogar mehr Geld in den sozialen Wohnungsbau gegeben als zuvor. Trotzdem kamen am Ende weniger Sozialwohnungen heraus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Deutschland baut ‚Premium-Sozialwohnungen‘. Und die sind schlichtweg zu teuer. Es geht in guter Qualität auch deutlich günstiger“, sagte ARGE-Chef Dietmar Walberg einer Mitteilung des Bündnisses zufolge.
Stadt- und Regionalplaner Eberhard von Einem von der HTW-Hochschule für Technik und Wirtschaft (Berlin) kritisiert die „untätige Hinnahme des Schwunds an Sozialwohnungen nach Auslaufen der Bindungsfristen und ungenügende Fertigstellungen neuer Wohnungen, insbesondere kostengünstiger Sozialbauwohnungen ab 2010“ als Fehlentwicklung und Versäumnis der vergangenen Jahre in Berlin und im Bund.
„Gerade Berlin müsste hier enorm nachlegen mit Sozialwohnungen“, sagte Pestel-Studienleiter Günter am Mittwoch anlässlich der Vorstellung seiner jüngsten Studie: „Berlin ist die große Mieterstadt, die in weiten Teilen hier noch relativ niedrige Einkommen hat, aber extrem gestiegene Wiedervermietungsmieten hat.“ Einer der Tropfen auf den heißen Stein: Im vergangenen Jahr hat Berlin nach Angaben der Bauverwaltung 5.188 Sozialmietwohnungen bewilligt (2023 waren es 3.492). Gebaut sind sie damit noch nicht.
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