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Grenzöffnung an der Bornholmer Brücke, DDR-Bürger springen über den Schlagbaum

© imago images/Camera4

Kulturtipps zum Mauerfall: Wo man die Freiheit hören, lesen und spüren kann

Schriftsteller Max Czollek, Bundesbildungs-Chef Thomas Krüger und Autor Robert Ide verraten ihre Lieblingsstücke und Lieblingsorte, die sie noch immer an die Revolution erinnern

Stand:

Der Mauerfall vor 35 Jahren war ein Weltenumbruch, aber auch ein neues Lebensgefühl. Hier erzählen drei Berliner, welche Songs, Bücher und Orte sie damals geprägt haben und sie bis heute mit Blick auf die neue Freiheit prägen.

Max Czollek, Schriftsteller

Rondeau Allemagne - Gedicht, 1989/1990
„Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“, so beginnt das Gedicht von Barbara Köhler, in welchem sie ihre Erfahrung mit dem Mauerfall beschreibt. Zentral ist dabei die Verbindung von individuellem Gefühl und politischer Entwicklung, die ambivalent bleibt, weil nichts so einfach war, wie es im Nachhinein vielleicht erscheint: „Will ich die Übereinkünfte verletzen und lachen, reiß ich mir das Herz in Fetzen.“ Stellvertretend für so viele Intellektuelle, die den Mauerfall vorbereiten halfen und begleiteten.

Max Czollek

© Doris Spiekermann-Klaas/Tagesspiegel

Lütten Klein - Buch, 2019
Steffen Mau ist ein Soziologe, der etwas jünger ist als meine Eltern und in einer Neubausiedlung von Rostock aufwuchs. 2019 erschien seine Studie Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft bei Suhrkamp. Ich habe das Buch mit Begeisterung gelesen, weil es mir als Ost-Berliner eine Realität näherbringt, die vor, während und nach 1989/1990 jenseits der städtischen Zentren in Ostdeutschland herrschte.

Duvalar / Mauern / Walls - Dokumentarfilm, 2000
Can Candan war Filmstudent, als er die Aufnahmen für diese Dokumentation 1991 in West-Berlin machte. Die Interviews mit türkischen Migrant*innen sind eine ungewöhnliche Spiegelung der Ereignisse von 1989, die Zeugnis ablegen von großer Neugier und Menschenliebe, von einem Unbehagen über die zunehmende rassistische Gewalt, aber auch dem Willen zum politischen Widerstand. Ein fast vergessenes Kapitel migrantischer Beiträge zur deutschen Demokratie.

Für meine weggegangenen Freunde - Lied, 1979
Bereits zehn Jahre vor dem Mauerfall rief Bettina Wegner Freund*innen, die die DDR verlassen hatten, ihre Traurigkeit hinterher: „Ich meine alle, die euch wirklich brauchen / und jetzt in ihrer Trauer untertauchen / die euch noch folgen werden auf die gleiche Reise.“ Wenn ich über 1989/1990 nachdenke, dann immer auch darüber, dass die DDR vielen Menschen, denen das Projekt Sozialismus und Antifaschismus wichtig gewesen ist, das Herz gebrochen hat. Ohne diese Enttäuschung hätte es wohl kein 1989 gegeben.

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Trauer und Turnschuh - Podcast, 2023
Das ist ein Podcast, den ich gemeinsam mit der Journalistin Hadija Haruna-Oelker im Januar 2023 begonnen habe. Es geht darum, auf welche Weise eine (unaufgearbeitete) deutsche Geschichte für unsere Gegenwart eine Rolle spielt. Eine Folge haben wir Vom doppelten Vergessen. Was war Ostdeutschland genannt und uns mit dem Historiker Patrice Poutrus über die Migrationsgesellschaft DDR unterhalten. Es ist ein schöner und wichtiger Blick zurück geworden.

Max Czollek, geboren 1987, ist Autor und lebt in Berlin. Er ist Mitherausgeber des Magazins „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und seit 2021 Kurator für eine plurale Erinnerungskultur. Aktuell hostet er am HKW Berlin eine Gesprächsreihe. Seine Gedichtbände erscheinen im Verlagshaus Berlin, die Essays beim Verlag Carl Hanser.

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Robert Ide, Autor

Franziska Linkerhand - Roman, 1974
Lesen zwischen den Zeilen. Erzählen in doppelter Sprache. Ostdeutschen wohnt der doppelte Boden inne – dieses erfahrene Wissen, dass alles auch ganz anders kommen kann. Brigitte Reimann hat immer daran geglaubt und diesen Wagemut ihrer mitreißenden Hauptfigur geschenkt. Freimütig erobert sie die konfektionierte Welt der DDR, um alle Konventionen radikal einzureißen. Eine bewundernswerte Frau – so wie Brigitte Reimann, die ihr Lebensbuch kurz vor ihrem frühen Tod vollendete. Und viele Zwischenzeilen hinterließ.

Robert Ide, Autor beim Tagesspiegel.

© privat

Als ich fortging - Lied, 1987
Ein Liebeslied, eigentlich. Ein Lied über ein Land, das verschwindet – außer in einem selbst. Die Hymne, berühmt geworden durch Konzerte von „Karussell“ im Palast der Republik an den drei Tagen um den Mauerfall, ist die vertonte Wende von uns allen. Das Blatt der Gegenwart wurde gewendet, und man sah voller Euphorie: Das Leben hat mehr als eine Seite. „Nichts ist unendlich“, singt Dirk Michaelis. Und er weiß ebenso: „Auch die Trauer wird da sein, schwach und klein.“

Rummelplatz - Roman, 1965/2007
Die DDR kam nicht aus dem Nichts. Sie kam aus einem deutschen Krieg, wuchs auf Trümmern und harter Arbeit. Die härteste Härte war das Schuften unter Tage. Mein Opa ackerte im Bergbau im Erzgebirge, wo die Hymne entstand, die bis heute auch das Ruhrgebiet prägt: Glück auf, der Steiger kommt! Werner Bräunigs Roman, in der DDR wegen seiner klaren Wahrheiten verboten, zeigt, woher wir alle kommen: nicht aus dem Nichts.

Fernsehturm - Sehenswürdigkeit, 1969
Als Kinder sammelten wir Altstoffe, um mit Alu-Geld hier oben die ganze Stadt sehen zu können – das Berlin, von dem Oma und Onkel immer erzählt hatten: wo Hertha spielte, der Ku’damm leuchtete, die Freiheit eine Heimat hatte. Der Fernsehturm war das verrückteste Bauwerk der DDR und für mich das vom Staat am weitesten entrückte. Hier war das Leben kurz fast grenzenlos. Bei jeder Fahrt nach oben finde ich das heute noch verrückt. Und muss vor Freude kurz weinen.

Der Fernsehturm überragte die Mauer.

© imago/Gerhard Leber

Bornholmer Gärten - Kleingartenanlage, 1896
Früher endete hier die Welt an der Straßenbahnschleife. Menschen flohen mit Gartenleitern über die Mauer, manche wurden erschossen. Meine Eltern flüchteten sich mit mir in eine Nische – einen Kleingarten direkt an der Grenze. Als Kind sah ich Menschen an Fenstern auf der unerreichbaren anderen Seite. Dann öffnete sich an der Bornholmer über Nacht die ganze Welt. Heute sind die Bornholmer Gärten offen für den Kiez, die Stadt, für alle. Jung und Alt, Ost und West, Nord und Süd feiern Feste, buddeln, treffen sich in unserem Ausflugslokal „Bornholm’s“. An den Gartentischen erzählen wir: Und woher kommst Du?

Robert Ide, geboren 1975 im Erzgebirge und aufgewachsen in Ost-Berlin, ist Journalist beim Tagesspiegel und Autor. Er schreibt zu Ostdeutschland, Kultur, Geschichte, Berlin und über die Liebe. Zuletzt erschienen: „Erzähl mir von der Liebe“ (mit Helena Piontek und Joana Nietfeld; Verlag hanserblau). Ehrenamtlich ist er Vorsitzender der Kleingartenanlage Bornholm 1 in Prenzlauer Berg.

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Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung

Störfall. Nachrichten eines Tages - Buch, 1987
Im Frühling 1986 explodieren die Blüten an den Kirschbäumen auf dem Mecklenburger Land – das Wort „explodieren“ traut sich aber niemand mehr zu denken, seitdem bekannt wird: Im Kernreaktor von Tschernobyl hat eine Explosion stattgefunden. Als Christa Wolfs Ich-Erzählerin jede volle Stunde die Warnungen im Radio hört, muss sich ihr Bruder einer Operation am Gehirn unterziehen. Es geht also um zwei Störfälle, eine kollektive und eine individuelle Katastrophe, am selben Tag. Ein Buch über das Eindringen des Unfassbaren in den Alltag und menschlichen Kontrollverlust.

Thomas Krüger

© Mike Wolff TSP

Bruce Springsteen - Konzert, 1988
Die Absicht, das DDR-Konzert, das Bruce Springsteen auf der Radrennbahn Berlin-Weißensee gab, ideologisch zu instrumentalisieren, verfehlte rückblickend sein Ziel komplett. Im Gegenteil wird dem Massenereignis ein Anteil am Untergang des Systems zugeschrieben.

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Gedenkstätte Berliner Mauer - Führung, immer
An diesem Ort werden die vielfältigen Folgen des Mauerbaus eindrücklich sichtbar, woraus Empathie für diejenigen gefördert wird, die unter der Mauer gelitten, für ihre Überwindung das Leben riskiert oder es gar verloren haben.

Good Bye, Lenin - Spielfilm, 2003
Der Film verbindet harte Fakten mit Emotionen, Umbrüche und Niedergang mit Chancen und Aufbrüchen, und das in einer sehr zugänglichen, teils witzigen, teils tief berührenden menschlichen Ebene.

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Anders Sein oder Der Punk im Schrank - Comic, 2019
Leipzig, Anfang der Achtziger: Durch Westsender lernen vier Jugendliche Musik und Lebensgefühl des englischen Punk kennen. Sie sind Feuer und Flamme, gründen im Keller eines Abrisshauses selbst eine Band: Die Haftung. Ihre Songs heißen Sorgenkinder oder Links ’ne Mauer, rechts ’ne Mauer; ihre provokanten Auftritte bringen Thomas („Thumult“), Vero, Oskar („Abgang“) und Paule (der „Schrank“) in Konflikt mit der Staatsmacht. PM Hoffmanns und Bernd Lindners Graphic Novel verfolgt die Lebenswege der vier Kids in Ost und West bis in die Neunziger hinein. Eine spannende Geschichte über die erste Punk-Generation in der DDR.

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Thomas Krüger, geboren 1959, ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Im Revolutionsjahr 1989 gehörte er zu den Oppositionellen, die den Wahlbetrug im Mai 1989 öffentlich machten und so die Proteste anfachten. Im Oktober 1989 gründete er die SDP der DDR mit (später: SPD) und saß dann in der letzten DDR-Volkskammer.
Diese Texte sind erschienen im Buch „Haltet die Freiheit hoch“, herausgegeben von Kulturprojekte, das zum 35. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin verteilt wird. Der Tagesspiegel veröffentlicht exklusiv Auszüge aus dem Buch.

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