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Sabine Musial leitet das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv in Berlin-Altglienicke

© Julia Schmitz

Gegen das Vergessen: Archiv in Berlin-Altglienicke sammelt Erinnerungen

Sabine Musial leitet das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv (TEA) im Kosmosviertel. Über 2000 Fotos und Aufzeichnungen von Privatpersonen werden hier für die Nachwelt aufbewahrt.

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Alles begann mit einem Schreibworkshop. 1993 organisierte die Bibliothekarin Karin Manke die „Treptower Schreibwerkstatt“ im Heimatmuseum Treptow, bei der Seniorinnen und Senioren ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend im Krieg aufschrieben. „Sie ist auch gemeinsam mit ihnen durch die Straßen des Bezirks gelaufen und hat sich erzählen lassen, wie es dort früher aussah. So kam viel Material über Treptow-Köpenick zusammen, das den Grundstock für unsere Sammlung bildete“, erzählt Sabine Musial. Sie leitet seit 2021 das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv, das seinen Sitz seit zwei Jahren im Bürgerhaus Altglienicke im Kosmosviertel hat.

Hier können Privatpersonen Fotoalben, Briefwechsel oder Tagebücher ihrer verstorbenen Familienangehörigen abgeben. „Die großen Archive sammeln hauptsächlich Zeitdokumente von bekannten Personen. Aber wer hält fest, was ganz normale Menschen in ihrem Leben bewegt hat?“, sagt Musial.

Das erste Erinnerungsobjekt, welches sie nach der Übernahme der Leitung entgegennahm, lässt ihre Augen noch heute leuchten: Es ist das Tagebuch des 1867 in Berlin geborenen Josef Murch. Eine Angehörige hatte ihr die schwarze Kladde, in der Murch seine Lebensgeschichte fein säuberlich in Sütterlin festgehalten hat, überlassen. Auch Fotografien von ihm und seiner Frau sowie den gemeinsamen Kindern sind im Archiv bewahrt.

Von Feldpostbriefen zu Tagebüchern

„Ich finde es schön, wenn man nicht nur die Dokumente hat, sondern auch die Hintergründe kennt, zum Beispiel über die Menschen auf den Fotos. Dann kann man die Geschichte der Personen erzählen und bewahren“, sagt Musial. Schon immer hat sie, die 40 Jahre als Kinderärztin arbeitete, sich für Geschichte interessiert; ihr Ehemann ist Archivar. Seit ihrem Renteneintritt widmet sie sich mehrere Tage pro Woche dem Archiv – alles ehrenamtlich.

Regelmäßig organisiert sie auch Veranstaltungen mit den Dokumenten. Noch bis zum 30. August hängen in der Mark-Twain-Bibliothek im Nachbarbezirk Marzahn-Hellersdorf eine Reihe Feldpostbriefe aus den beiden Weltkriegen. Ende Juli gab es dort eine Lesung aus den Briefen, nach der eine rege Diskussion unter den Anwesenden entstand.

„Viele haben mir im Anschluss erzählt, dass sie nicht wissen, was sie mit den Briefen ihrer Verstorbenen anfangen und wie sie damit umgehen sollen“, erzählt Musial. Die Arbeit mit den Hinterlassenschaften der Vorfahren kann alte Wunden aufreißen und erfordert nicht nur Mut, sondern auch Zeit.

Ich finde es schön, wenn man nicht nur die Dokumente hat, sondern auch die Hintergründe kennt, zum Beispiel über die Menschen auf den Fotos. Dann kann man die Geschichte der Personen erzählen und bewahren

Sabine Musial leitet das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv

Und offenbar ein gewisses Alter. „Man merkt, dass die Jugend sich nicht sehr für Geschichte interessiert. Das kommt erst, wenn man älter ist und sich mit der eigenen Familie auseinandersetzt. In der Zwischenzeit haben aber viele die Fotos und Tagebücher der Verstorbenen entsorgt, weil sie keinen Platz haben oder keine Zeit oder Lust nachzuschauen, wo man sie abgeben könnte.“

Es kommt außerdem häufiger vor, dass Sabine Musial anonyme Einsendungen aus dem Briefkasten holt, wie zuletzt die beiden Taschenkalender aus den 1940-er Jahren, auf denen ein dickes Hakenkreuz prangt. Der ehemalige Besitzer hatte hier akribisch Manöver, Bombardierungen und Verluste seiner Armee eingetragen.

Privatrecherche möglich

Es gibt auch Menschen, die ihre eigenen Tagebücher noch zu Lebzeiten an das Archiv geben. Dahinter, so Musial, liege vermutlich der Wunsch, etwas zu „hinterlassen“ und mit dem eigenen Tod nicht in Vergessenheit zu geraten. Manche hielten ihr Leben und ihre Erlebnisse aber auch für derart interessant, dass sie darauf drängten, dass ihre Tagebücher an die Öffentlichkeit kommen und zum Beispiel in Ausstellungen gezeigt werden. „Da gibt es aber Grenzen. Manches ist wirklich zu privat“, sagt Musial.

Über 2000 Dokumente befinden sich mittlerweile im Archiv. Dank zweier finanzieller Förderungen können Musial und ihre Kolleginnen und Kollegen diese nach und nach einscannen und digital in einer Datenbank verfügbar machen. Wer in der Zwischenzeit für eine Arbeit in Schule oder Studium zu Archivalien recherchieren möchte, kann sich bei Frau Musial melden.

Regelmäßig finden eine Mitgliederversammlung und ein Arbeitstreffen im Tagebuch- und Erinnerungsarchiv statt, an der auch Interessierte teilnehmen können. Der nächste Termin ist am 16. September ab 10 Uhr im Bürgerhaus Altglienicke, Ortolfstraße 182 (Eingang über die Bibliothek). Um vorherige Anmeldung an sabine.musial@tea-berlin.de oder telefonisch unter der 030-65 32 22 75 wird gebeten.

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  • Gegen das Vergessen: Sabine Musial leitet das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv in Altglienicke
  • Berlin baut und baut und baut: Knapp 70 Prozent der Neubauten entstehen in den östlichen Außenbezirken
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