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Lucas Vogelsang, 31, Autor.

© Philipp Wente/Aufbau Verlag/ promo

"Heimaterde" von Lucas Vogelsang: "Spandau ist das beste Bootcamp fürs Leben"

"In einem Buch über Heimat darf die eigene nicht fehlen." Lucas Vogelsang, 31, veröffentlicht sein Buch "Heimaterde" - hier erzählt er seine Geschichte.

96 Ortsteile, 12 Bezirke, 1000 Geschichten. Jeden Tag erzählen wir in unseren "Leute"-Newslettern Geschichten aus den Bezirken - immer dienstags aus Spandau. Dort stellen wir auch stets einen "Nachbarn" vor mit drei, vier Fragen - diesmal antwortet: Lucas Vogelsang, Autor. Er hat auch viele Jahre für den Tagesspiegel geschrieben und zum Beispiel Bezirkschef Helmut Kleebank oben auf dem windigen Rathausturm getroffen.

Premiere in Wedding, Lesung mit Raed Saleh in Spandau

Lucas Vogelsang, aufgewachsen in Spandau, veröffentlicht jetzt ein neues Buch. Titel: "Heimaterde - Eine Weltreise durch Deutschland" (Aufbau-Verlag, 2017). Premiere ist am Dienstag, 14. März, in der Bar Anita Berber in Wedding (Pankstraße 17, 20 Uhr, Moderation: Radio1-Moderatorin Bettina Rust). Am 3. April steht im Kulturhaus Spandau eine weitere Lesung an - mit Raed Saleh, dem SPD-Politiker aus Spandau. In unserem neuen Spandau-Newsletter verlosen wir am Dienstagnachmittag auch drei Bücher - kostenloses "Leute"-Abo unter www.tagesspiegel.de/leute.

Vier Fragen, vier Antworten - diesmal mit Lucas Vogelsang

1.) Warum ein Buch aus/über/mit Spandau?

In einem Buch über Heimat darf natürlich die eigene nicht fehlen. Die Frage danach, was eigentlich Zuhause für mich ist, der Ort, der mir nie egal sein kann. Und da gab es für mich  nur eine Antwort, sie hat sieben Buchstaben und liegt tief im Westen.

Früher gab es an der Wohnungstür meiner Großmutter, dunkles Sperrholz, Messingknauf, einen Aufkleber. Darauf, schwarz auf gelb, ein Wegweiser mit zwei Pfeilen. Links ab ging es da nach Berlin, vorortklein. Geradeaus lag, in fetten Großbuchstaben, Spandau. Wobei die Schriftgröße auch gleich das Selbstverständnis der Bewohner zusammenfasste. Spandauer, ließ die SPD damals auf Plastiktüten drucken, sind schlauer. Heimat ist auf eine Karte gemalte Hybris. Sie klingt gut. Und ich höre ihr noch immer gerne zu. Auch wenn die Treffen mit ihr mitunter schmerzhaft sein können. Im Zerrbild der verstrichenen Zeit ist Heimat eine Jugendliebe, die zur Frau geworden ist und dann zur Greisin. Mitunter hat sie sich gehen lassen. Echte Heimat ist ja auch der Ort, der dich wie kein anderer enttäuschen kann, weil er deiner Sehnsucht nicht gerecht werden kann.

"Ein Ort aus der Vergangenheit, das macht ihn so gefährlich"

Spandau, das ist, wie jede Heimat, ein Ort aus der Vergangenheit, das macht ihn so gefährlich.

Und dennoch wird er immer ein Teil von mir sein. Wie sagen die Leute immer, die Zugezogenen und Provinzesotheriker, die gerne in T-Shirt-Texten denken: Man bekommt den Jungen aus Spandau, aber Spandau nie aus dem Jungen. Dann lachen sie. Und ich lache auch, erst mit der Faust in der Tasche, dann mit zunehmend geschwollener Brust, weil doch in diesem Satz die ganze Stadtrandwahrheit steckt, die mich doch immer wieder mit Stolz erfüllt. Dieses Wissen darum, woher man kommt, für mich ist es immer ein Kompliment gewesen. Weil Spandau ein ehrlicher Ort ist, ohne Schnörkel, der gute Kumpel, der dir sagt, wenn du Mundgeruch hast oder dir die Autoschlüssel wegnimmt, weil du nicht mehr fahren solltest. Ein Kumpel aber auch, der im Zweifel vor der Tür deiner Lieblingskneipe eine Schlägerei anzettelt, damit du drinnen deine Traumfrau gewinnen kannst. Gäbe es die Tüten von damals noch, ich würde mit ihnen in jedem Bio-Supermarkt der Stadt einkaufen gehen.

Groß geworden in Spandau: Lucas Vogelsang.
Groß geworden in Spandau: Lucas Vogelsang.

© promo/Philipp Wente/Aufbau Verlagh/promo

 2.) Wo oder was ist Ihr Spandau?

Mein Spandau hat zwei Gesichter, es muss, anders geht es nicht, von zwei Enden her erzählt werden. Mein Spandau ist eine Busfahrt am Morgen, eine schier endlose Straße, mein täglicher Schulweg aus Hakenfelde bis nach Kladow. Er führt vom Stuck der Altbauwohnungen in Hakenfelde, am Rathaus vorbei , die Potsdamer Chaussee hinauf, hinein in Weitläufigkeit der Landstadt Gatow, dieser Desperate Housewives Kulisse vor schier endlosem Himmel, diesem Flugplatz, von dem ich nie ein Flugzeug habe starten sehen, auf dem aber doch so viele Reisen begonnen haben. Das ist mein Spandau, ein Ritt durch die Gegensätze. Irgendwo zwischen dem Alupapier der Dönerläden an der Lynarstraße und den ersten, noch klammen Weinschorlen am Imchen.

"Remmidemmi bei Richkids, Schlachten im Käfig"

Den kaputten Nachmittagen im überfüllten 131er, und den langen Abenden am See. Es gab für mich in Spandau, Jugendjahre, immer alles. Privatpartys in Einfamilienhäusern von Anwälten und Ärzten, die, wie nett von ihnen, ständig auf irgendwelchen Tennisturnieren waren. Krawall und Remmidemmi bei den Richkids. Und die Fußballnachmittage mit den Jungs, deren Eltern für Tennis eher das Kleingeld fehlte. Kleine Schlachten. Auf Schotter erst, dann im Käfig mit Kunstrasen, bis dort Knochen geborsten und Träume geplatzt sind. Ich habe beide Seiten immer gemocht, das leicht Prollige der Platten und den SUV Snobismus der Villen. Golf spielen oder Mercedes heißen, geht beides. Am Stadtrand.

Spandau ist deshalb bestes Bootcamp fürs Leben. Danach kann dich nur noch wenig überraschen.

Spandau ist echt 'ne Nummer. Mal städtisch, mal Dorf, mal reich, mal arm.
Spandau ist echt 'ne Nummer. Mal städtisch, mal Dorf, mal reich, mal arm.

© Imago/ZumaPress

3.) Als Bezirkskenner: Wo ist der beste/unterschätzteste/geheimnisvollste/schönste Fleck im Bezirk?

Das Gute am Stadtrand ist ja, dass hinter dem Rand die Stadt aufhört. Dahinter ist dann gleich das Land, Brandenburg, das der Spandauer ja gerne als Umland bezeichnet, was nach Nazis und Wölfen klingt, als hausten die Rudel am Ende der Straße. Von meinem Elternhaus jedenfalls kann man das Umland schon riechen. Kann es erahnen, ein anderes Licht hinter den Bäumen, die wir da am Rand Forst nennen, als wäre Wald als Idee nicht blickdicht, nicht mystisch genug. Der Spandauer Forst war immer mein Zauberwald, ich habe mich darin verloren, weil in ihm die Märchen zu lauern schienen. Man kann dort hinein laufen und an modrigen Flussläufen frisch geborene Schweine füttern, fabelhaft.

"Ein bisschen wie Jurassic Park"

Im Sommer schützt der Forst vor der Hitze, weil sich das Licht in den Baumkronen bricht und wenn man nur weit genug hinein fährt, wird es wieder ganz hell, öffnen sich die Pfade zu einer Lichtung hin, auf der nur ein Baum steht, dort ist es möglich, allein zu sein. Abgeschieden. Es ist ein Ort, der hunderte Kilometer entfernt zu atmen scheint, vom Lärm der Stadt, dem Rumoren am Rathaus. Aber er liegt noch im Stadtgebiet.

Es gibt Stellen im Forst, kleine Weiher, Wasserstraßen, gefallene Baumriesen, von Moosen und Farnen bewachsen, die sehen im richtigen Licht aus als wären sie optische Täuschungen, Bilder aus Büchern. Florida, Everglades, bisschen Jurassic Park auch. Im Dickicht lauern Alligatoren. Und wenn man sich traut und noch weiter fährt, kommt man irgendwann an einen Ort, der Eiskeller heißt. Dort ist das Wetter zuhause. Früher standen dort Trabis neben Traktoren. Es ist ein Ort, von dem man Postkarten nach Hause schicken kann. Nur wird man vor ihnen da sein, es ist ja nicht weit. 

Märchenwald tief im Westen: Eiskeller.
Märchenwald tief im Westen: Eiskeller.

© Imago/Jürgen Ritter

4.) Und zum Schluss eine Warnung!

Ich wohne so lange nicht mehr in Spandau, dass auch der schlimme Ort, ein Ort aus der Vergangenheit ist. Einer, der die Erinnerung zur No-Go-Area macht. Und gerade bin ich mir auch gar nicht mehr sicher, ob es ihn noch gibt. Aber falls doch: Vorsicht. Vor dem Rathaus jedenfalls, in der Nähe der Busse Richtung Rand, da stand immer eine dieser roten englischen Telefonzellen. Sie war etwas Besonderes, denn sie passte dort nicht hin. Und wurde genau deshalb zum Treffpunkt, die Spandauer Variante der Weltzeituhr. Dorthin also kamen die Skater, die ihre Hosen in den Kniekehlen trugen, und die Hip-Hopper, die ihre Hosen ebenfalls in den Kniekehlen trugen, aber kein Skateboard besaßen. Und sie wurde, das ließ sich kaum vermeiden, bald auch zur Anlaufstelle für die amtlichen Auf-die-Fresse-Treffen, die Massenschlägereien der Jungs, die nicht unbedingt auf unser Gymnasium gingen.

"An der roten Telefonzelle wollte niemand telefonieren, nur Stress"

An der Telefonzelle, da wurden die Dinge geklärt. Rathaus Spandau, hieß es dann, Einzelkampf. Obwohl doch jeder wusste, dass niemand allein kommen und schon gar nicht einzeln kämpfen würde. Sie kamen eher alle auf einmal. Weil es um die Ehre ging und weil gerade das Handy in Mode gekommen und dann zur Waffe geworden war. Am anderen Ende einer sehr kurzen Leitung immer ein sehr großer Bruder. Und vielleicht ist das der einzige Witz in dieser sonst sehr ernsten Geschichte, dass eine Telefonzelle als Treffpunkt diente, von der bald niemand mehr telefonieren sollte. Sie kamen schließlich auch so. Und kämpften. Türken gegen Russen, Kurden gegen Türken. Russen gegen Kurden. Manchmal auch Araber oder Türken unter sich, kam drauf an, wer den falschen Blick riskiert, die richtigen Worte gefunden hatte. Mütter hatten ja alle und viel Zeit am Nachmittag, zum Totschlagen.

Die Telefonzelle, das war kein Ort zum Verweilen. Was auch der Grund dafür ist, wieso ich heute nicht weiß, ob sie überhaupt noch dort steht. Ich habe mich nie wieder getraut, nachzuschauen.

Desperate Housewives Kulisse vor schier endlosem Himmel: die "Landstadt Gatow" mit dem Flugplatz im Hintergrund.
Desperate Housewives Kulisse vor schier endlosem Himmel: die "Landstadt Gatow" mit dem Flugplatz im Hintergrund.

© Imago/Rolf Zöllner

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