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Zu jung für den Schulalltag? Immer mehr Eltern gehen lieber auf Nummer sicher und warten noch ein Jahr.

© dpa

Bildung: Berliner Eltern rebellieren gegen die Früheinschulung

Über 4800 Familien stellen Anträge gegen die Früheinschulung ihrer Kinder – so viele wie noch nie. CDU und Grüne wollen spätere Schulpflicht. Auch Neuköllns SPD-Bildungsstadträtin kritisiert das Verfahren.

Jetzt wird es ernst: Am 7. Juli will die Bildungsverwaltung den Koalitionären berichten, was die von den Abgeordneten verlangte Auswertung der Früheinschulung ergeben hat. Doch manche wollen schon gar nicht mehr wissen, was die Wissenschaftler herausgefunden haben – zu unpopulär ist der Berliner Sonderweg, Kinder schon vor ihrem sechsten Geburtstag in die Schule zu holen.

Wie sehr die Familien der Früheinschulung misstrauen, zeigen die Anmeldezahlen zum neuen Schuljahr: Rund 16 Prozent der Eltern haben beantragt, ihre Kinder zurückzustellen. Dies ergab eine Umfrage des Tagesspiegels in den Bezirken. Die Berliner Quote liegt damit mehr als doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, der im jüngsten Bildungsbericht der Kultusminister mit sieben Prozent beziffert wurde.

Alle zwölf Bezirke sehen gegenüber 2013 eine deutliche Zunahme der verspäteten Einschulungen um fast ein Viertel auf insgesamt 4800 – und das, obwohl noch nicht alle Anträge bearbeitet sind. Noch vor einem Jahr hatte die absolute Zahl der Zurückstellungen bei rund 3800 gelegen, was einer Quote von rund 13 Prozent entsprach.

Nach Ansicht der Bezirke hat der Anstieg auch damit zu tun, dass das Prozedere transparenter wurde: Die Eltern erfahren jetzt bereits auf einem Flyer, dass sie ihr Kind nicht unbedingt einschulen müssen. Zudem können sie auf ihrem Anmeldeformular ankreuzen, dass sie eine verspätete Einschulung wünschen. Dennoch gibt es weiterhin Hürden: Kita und Schularzt müssen eine Stellungnahme abgeben, und der Schulrat hat das letzte Wort. Auch in der Einschulungsbroschüre macht die Bildungsverwaltung weiterhin Stimmung für die Früheinschulung, die „die schulische Entwicklung des Kindes fördert“, weil die Schule „jedem Kind eine individuelle Förderung bietet“.

Neuköllner Bildungsstadträtin diagnostiziert eine „Chaotisierung des Systems“

Daran zweifeln allerdings nicht nur die Eltern immer mehr. „Ich kenne keinen Praktiker, der sagt, dass die frühe Einschulung gut ist“, begründet Neuköllns Bildungsstadträtin Franziska Giffey (SPD) ihr klares Nein zur Schulpflicht mit fünf Jahren. Sie geht mit der von ihren Parteifreunden im Jahr 2006 initiierten Grundschulreform hart ins Gericht. Die damals beschlossene Früheinschulung mitsamt Abschaffung der Vorklassen bei gleichzeitiger Verordnung des Jahrgangsübergreifenden Lernens (JüL) habe zu einer „Chaotisierung des Systems“ geführt. Ausdruck dieser „Chaotisierung“ ist für Giffey auch das massenhafte Verweilen in der Schulanfangsphase. Sie hat den Eindruck, dass manche Kinder nur deshalb die zweite Klasse wiederholen müssen, damit die Schülermischung für JüL funktioniert.

In Neukölln muss jedes fünfte Kind die zweite Klasse wiederholen, weil es nach Ansicht der Lehrer den Stoff der Schulanfangsphase nicht beherrscht. „In manchen Schulen sogar jedes zweite Kind“, ergänzt Giffey. Berlinweit lag die Quote zuletzt bei 15 Prozent, was fast 4000 Kindern entspricht. Um zu erkennen, dass sich die Situation durch die Früheinschulung „verschlimmert“ habe, brauche man „keine großartigen Studien mehr“, findet die Sozialdemokratin.

Auch CDU und Grüne erwarten nicht mehr viel von der wissenschaftlichen Auswertung der Früheinschulung. Zwar hatten die Fraktionen diese Evaluation auf Betreiben des grünen Bildungsexperten Özcan Mutlu nach langem Hin und Her im Schulausschuss erkämpft. Aber das Ergebnis ließ so lange auf sich warten, dass die Skepsis inzwischen größer ist als die Erwartung. So hat die CDU bereits unabhängig vom Ergebnis der Studie beschlossen, sich für eine Gesetzesänderung einzusetzen, bekräftigt Bildungsexpertin Hildegard Bentele das Fraktionsvorhaben. Demnach soll der Stichtag für die Schulpflicht so verschoben werden, dass Kinder nicht vor dem sechsten Geburtstag in die Schule müssen. Allerdings plädiert die CDU dafür, dass auch jüngere Kinder angeschrieben werden, damit Eltern von der Möglichkeit einer vorgezogenen Einschulung erfahren.

"Dann bricht das Kitasystem zusammen", befürchtet Bürgermeisterin Monika Herrmann

Ähnlich wie die CDU erwarten auch die Grünen nicht mehr viel von der Evaluation der Früheinschulung. „Ich habe die Sorge, dass die Studie tendenziös wird“, kommentiert Monika Herrmann, grüne Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, die bevorstehende Veröffentlichung durch Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Bei der Kritik an der Früheinschulung sei sie „ganz bei der CDU“. Allerdings weist Herrmann auch auf die Konsequenzen hin, die eine starke Verschiebung der Schulpflicht hätte: „Dann bricht das Kitasystem zusammen, denn es blieben auf einen Schlag Tausende zusätzliche Kinder in der Kita“, so Herrmann, die auch Jugendstadträtin ist und daher die Platzknappheit kennt. Genug Kapazitäten ließen sich nur durch ein Kita-Neubauprogramm schaffen.

Die Bildungsverwaltung versucht, unliebsame Zahlen zurückzuhalten

Die Kritik kommt der Bildungsverwaltung nicht gelegen. Sie bemüht sich vor der kniffligen Diskussion um die Früheinschulung in der Koalition, unangenehme Fragen abzuwehren. So versuchte sie diese Woche mittels einer Rundmail an ihre Außenstellen zu verhindern, dass die neuen Rückstellungszahlen herausgegeben wurden. Auch die diesjährigen Verweilerzahlen behält sie vorerst lieber für sich: Nach tagelangen Nachfragen kam der Hinweis auf eine Veröffentlichung „in der ersten Julihälfte“.

"Jeder der halbwegs vom Fach ist, lehnt die Früheinschulung ab", fasst Andreas Günther die Meinungen seiner Kollegen zusammen. Der Leiter der diakonischen Kita Fontanepromenade in Kreuzberg kann es gar nicht erwarten, dass die Koalition den Stichtag verschiebt, damit Fünfeinhalbjährige nicht mehr automatisch in die Schule kommen.

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