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Zugestapelt. Der Altar der Kirche St. Matthäus ist hinter den Schuhputzboxen verschwunden. Listros heißt das Projekt, die ganze Woche gibt’s Veranstaltungen.
© Kai-Uwe Heinrich

Sonntags um zehn: Boxenstopp am Palmsonntag

Christen in der ganzen Stadt feierten den Beginn der Karwoche. Am Kulturforum erinnern tausend Schuhputzkisten an die Armut in Äthiopien – und ein Gottesdienst

Auf den ersten Blick sehen alle gleich aus: Rechteckige Holzboxen, innen hohl, obendrauf ein Griff zum Tragen. Auf den zweiten Blick sieht man schrundige Stellen, abgeschabte Ecken, einige sind größer, andere kleiner. Die Boxen wurden geklebt, geklammert und neu zusammengenagelt, wo sie auseinanderzufallen drohten. Jede hat ihre eigene Geschichte - so wie die Schuhputzer in Äthiopien, denen sie gehörten. In den Boxen befanden sich ihre Bürsten, Cremes und Lappen. Bis Samstag sind über tausend dieser Behältnisse in der Kirche St. Matthäus am Kulturforum zu sehen.

Das hat mit dieser Woche zu tun, die für Christen besonders wichtig ist. Am Sonntag eröffneten viele Gemeinden den Gottesdienst mit einer kleinen Prozession und trugen Palmwedel um die Kirche. Auch Kardinal Rainer Maria Woelki und die Besucher des Gottesdienstes in der St.-Hedwigs-Kathedrale folgten der Tradition und gedachten des Einzugs Jesu in Jerusalem an Palmsonntag. Sechs Tage vor seiner Kreuzigung wurde er dort noch mit Palmzweigen bejubelt. So steht es in der Bibel. Doch die Stimmung drehte sich schnell, und so beginnt am heutigen Montag die Karwoche, die an Jesu Leiden und Sterben erinnert. Als Zeichen der Trauer werden in den Kirchen die Kreuze, Kruzifixe und Altarbilder verhängt. In St. Matthäus hat man dazu dieses Jahr kein „Hungertuch“ benutzt, sondern die Boxen der Schuhputzer aus Äthiopien. Der Altar wurde damit komplett zugestapelt. Am Sonntagabend wurde die Installation mit einem Gottesdienst eröffnet.

Der Kistenhaufen ist ein Kunstprojekt

„Ist es vorstellbar, dass wir das, was andre als das Schmutzigste ansehen, über den Altar stülpen?“, fragte Pfarrer Christhard-Georg Neubert mit Blick auf die Boxen, die sich wie ein Kalvarienberg auf der Altarinsel erheben. Er denke ja. Denn am Altar versammelten sich alle Hoffnungen und Sehnsüchte, die in den Seelen der Menschen wohnen.

Der Boxen-Berg erinnert nicht nur an die Armut der Schuhputzer am unteren Ende der äthiopischen Gesellschaft, betonte Dawit Shanko. Er hat das Kunstprojekt „Listros“ vor zehn Jahren angestoßen. Schuhputzer und ihre Boxen heißen in Äthiopien „Listro“ - nach dem italienischen „lustro“: glänzend machen. Shanko war einer von ihnen und ärgerte sich, dass die Menschen bestenfalls Mitleid für die „Listros“ empfinden. Oft aber verachten sie sie. Er gab seinen früheren Kollegen Kameras. Sie sollten fotografieren, was sie selbst wahrnehmen und wie sie gesehen werden wollen. Manche hielten ihre muskulösen Oberkörper in die Kamera. Andere fingen die Konzentration bei der Arbeit ein. Das war der Beginn des Kunstprojekts „Moving Boxes“ und einer weltweiten Kampagne für die Wertschätzung der Listros. Das Selbstbewusstsein der Listros stehe im Vordergrund, ihre Hoffnung und ihr Mut, sagt Dawit Shanko. Viele Jugendliche kämen vom Land in die Stadt und begännen hier als Schuhputzer ein neues Leben. Viele Restaurantbesitzer in Addis Abeba hätten so angefangen.

Die Boxen stehen also auch für den Aufbruch in ein neues Leben - und verweisen damit auf Ostersonntag. Denn hätten sich Jesu Jünger von seiner Kreuzigung entmutigen lassen, das Christentum wäre eine längst vergessene Sekte geblieben. Aber sie waren überzeugt, dass Jesus auferstanden ist - gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Noch wichtiger als die Boxen sind die Briefe ihrer früheren Besitzer an die Menschen in der Welt. Schauspieler Benno Fürmann las am Sonntag aus ihnen vor. „Es gibt keine kleine Arbeit. Jede Arbeit ist groß“, schreibt Amanuel Tadesse. Ein anderer Junge berichtet, dass sich Kunden über die Qualität seiner Schuhcreme beschwerten. Selbstbewusst hält er dagegen: „Meine Creme ist gut, wie sie ist.“ Es gebe immer Menschen, die sich aus nichtigem Grund beklagen. „Das kennt ihr auch. Dafür, dass wir diese Erfahrung teilen, bedanke ich mich bei euch.“

Die Schuhputzer-Boxen verweisen auch auf Gründonnerstag, als Jesus seinen Jüngern als Zeichen der Demut die Füße gewaschen hat. Die meisten Äthiopier sind orthodoxe Christen. Die Fußwaschung an Gründonnerstag ist für sie ein sehr wichtiges Ritual. Auch viele römisch-katholische und evangelische Berliner Gemeinden haben das Ritual wiederentdeckt und laden zur Fußwaschung ein. Am Freitagvormittag feiern viele Kirchengemeinden Kreuzwegandachten und erinnern um 15 Uhr an die biblische Sterbestunde Jesu. Ab elf Uhr ziehen der evangelische Bischof Markus Dröge, Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein und der katholische Weihbischof Matthias Heinrich mit einer Karfreitagsprozession durch Mitte. Auch Linken-Politiker Gregor Gysi und Petra Pau wollen mitgehen, ebenso Wolfgang Thierse (SPD) und die Berliner Grünen-Chefin Bettina Jarasch. Los geht's am Berliner Dom.

Weitere Infos zu Gottesdiensten in der Karwoche und Ostern unter:

www.ostergottesdienste.de

Claudia Keller

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