
© Julian Stratenschulte / dpa
Charlottenburger Wiegmann-Klinik: Patienten in psychischer Notlage wegen Corona-Ausbruch entlassen
Nach einem Corona-Fall in einer Charlottenburger Klinik sollen psychisch kranke Patienten eilig entlassen worden sein. Doch sie brauchen engmaschige Betreuung.
Stand:
Am 13. Oktober kommt Emma nachmittags aus einer Behandlung und wird ohne Kommentar auf ihr Zimmer geschickt, dort solle sie bleiben. So erzählt sie es. Emma wartet 20 Minuten, bis endlich zwei Pflegekräfte mit roten Akten bepackt in ihr Zimmer kommen, um ihr zu sagen, dass sie die Klinik umgehend verlassen müsse, um sich in häusliche Quarantäne zu begeben. Sie sei als Risikokontakt eines Patienten gelistet, der nun positiv auf Corona getestet sei.
Die junge Frau am Telefon spricht langsam und ruhig. Sie hat sich Notizen auf ihrem Tablet gemacht und möchte alles der Reihe nach erzählen. Ihr Name, wie der von allen Patienten in diesem Artikel, wurde von der Redaktion geändert. Sie alle wurden an einer Fachklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin – der Wiegmann-Klinik in Westend – behandelt.
Emma war dort, um ihre schwere Familiengeschichte aufzuarbeiten. Ihr psychischer Zustand hatte sich zuvor akut verschlechtert. Ihre ambulante Therapeutin riet zu einer stationären Behandlung. Diese endete nun abrupt.
Emma beschreibt, wie sie an diesem Tag im Oktober unter Schock zu weinen beginnt. „Ich bin nicht aus Berlin und saß bei der Entlassung buchstäblich auf der Straße.“ In ihrer Verzweiflung kommt sie bei einer Freundin in einer Einzimmerwohnung unter, ihre Familie versucht sie aufzufangen, so gut es geht. Eine Wiederaufnahme nach der Quarantänezeit hätte man ihr bei der Entlassung nicht versprechen können. „Ich durfte mich in der Klinik nicht einmal mehr auf Corona testen lassen, darum musste ich mich selbst kümmern.“
Emma war kein Einzelfall. Patientenberichten zufolge wurden in jener Woche insgesamt mehr als 20 von 35 stationären Patienten entlassen, mehrere Betroffene wandten sich an den Tagesspiegel.
Hilfesuchende wurden von der Klinik alleine gelassen
Darunter eine junge Studentin, die an die Redaktion mailt, um ihre Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Für ein längeres Telefonat fehle ihr die Kraft. Sie schreibt, wie sehr sie die kurzfristige Entlassung und die Ungewissheit überfordert haben. „Das kann doch nicht sein, dass psychisch kranke Menschen, die sich Hilfe suchen, so hängen gelassen werden.“
Selbstmordgedanken stellen im Krankheitsverlauf der Studentin ein wiederkehrendes Problem dar, sie leidet an Depressionen. Vor einigen Jahren kam sie wegen eines Suizidversuchs ins Krankenhaus. Das geht aus Unterlagen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegen.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Die Studentin habe die Wiegmann-Klinik um Unterstützung bei der Suche nach einer ambulanten Therapeutin gebeten, was laut Aussage der Studentin aber abgelehnt wurde. Dies sei Aufgabe der einweisenden Psychiaterin, nicht der Klinik, hieß es. Den Arztbrief aus der Klinik, welchen sie für ihre Weiterbehandlung benötigt, schickte man ihr erst vier Wochen nach der Entlassung zu.

© Amélie Baasner
Die Fälle sind nun auch ein Vorgang bei der Patientenfürsprecherin der Klinik. So durfte etwa Stefan, ein Patient mit Angststörungen, vor seiner Entlassung über fünf Stunden sein Zimmer nicht verlassen. Dies geht aus einer Mail der Patientenfürsprecherin hervor, die dem Tagesspiegel vorliegt.
Stefan erklärte sich ihr gegenüber für nicht entlassungsfähig und schilderte seine große Angst vor der häuslichen Quarantäne. Ordentliche Entlassungspapiere wurden dem Mann laut der Patientenfürsprecherin zunächst verweigert.
Betroffene blieben über Zoom und Whatsapp in Kontakt
Die Betroffenen vernetzen sich, sprechen über Zoom und Whatsapp, um sich gegenseitig Halt zu geben. Sie überlegen, sich die Anwaltskosten zu teilen und verfassen gemeinsam einen Brief an die Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin.
Mit dem Vorwürfen konfrontiert reagiert die Klinikleitung so: „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir unsere Datenschutzverpflichtungen sehr ernst nehmen und keine Details zu Behandlungen in unseren Kliniken veröffentlichen können.“ Grundsätzlich würden positiv auf das Coronavirus getestete Patienten und Kontaktpersonen nur in die häusliche Quarantäne entlassen, wenn sie nach ärztlicher Einschätzung als entlassungsfähig eingestuft worden seien. Dies werde in jedem Einzelfall individuell entschieden.
[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]
Im Fall einer positiven Corona-Testung beziehungsweise behördlich angeordneter Quarantäne könne keine psychosomatische Behandlung vor Ort erfolgen, es werde dann poststationär telefonisch betreut. Darüber hinaus verweist die Klinik auf die Vorgaben des Gesundheitsamts Charlottenburg-Wilmersdorf.
Bezirksamt bestätigt den Corona-Ausbruch
Detlef Wagner, Bezirksstadtrat für Soziales und Gesundheit, bestätigte dem Tagesspiegel, dass es zu einem Corona-Ausbruch an der Klinik kam. Über die Entlassung stationärer Patienten zeigte er sich jedoch überrascht. Er sei nur über die Schließung der Tagesklinik informiert worden.
Wurde wirklich eine individuelle Einschätzung der Patienten vorgenommen? Emma erzählt, wie man ihr und sieben anderen Patienten, die ebenfalls am 13. Oktober entlassen wurden, einen Entlassungsschein in die Hand drückte, auf dem handschriftlich und ohne gängige ICD10-Verschlüsselung immer dieselbe Diagnose stand. Drei dieser Entlassungsscheine liegen der Redaktion vor.

© Amélie Baasner
Wurde die Nachsorge wirklich sichergestellt? Sowohl Emma, als auch ihre ambulante Therapeutin geben an, die Klinik kontaktiert zu haben, um über das zu Zustandekommen der Diagnose zu sprechen, beide wurden ihren Aussagen zufolge in der Sache abgewiesen.
In einem ambulanten Arztbrief, der dem Tagesspiegel vorliegt, beschreibt Emmas Therapeutin, wie sehr sich der Zustand der Frau kurz nach der Entlassung verschlechtert habe. Emma erzählt der Tagesspiegel-Redaktion, dass sie nach der plötzlichen Entlassung aus der Klinik vermehrt an Selbstverletzung gedacht habe.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Auch die anderen Patienten betonen, dass es in keinem Fall eine engmaschige telefonische Nachsorge gegeben habe. Stefan berichtet, dass er erst eine Woche nach seiner Entlassung vom Klinikleiter nach seinem Befinden gefragt wurde. Dies sei erst geschehen, nachdem er eine umfassende Beschwerde an die Geschäftsführung der Klinik aufgesetzt hatte. Man habe ihm im selben Atemzug mitgeteilt, dass er aufgrund seiner Kritik nicht wieder aufgenommen werden könne. Das Vertrauensverhältnis sei gebrochen und man behalte sich rechtliche Schritte vor, sollte er sich Dritten gegenüber äußern.
Wiederaufnahme angeboten - gegen Unterlassen einer Klage
Emma sagt, dass ihr eine Wiederaufnahme angeboten wurde – unter der Voraussetzung, dass sie keine rechtlichen Schritte gegen die Klinik einleite. Beide Ex-Patienten haben dem Tagesspiegel eidesstattliche Versicherungen über ihre Aussagen abgegeben.
Alle Gesprächspartner des Tagesspiegels berichten von Mitpatientinnen und Mitpatienten, die das Angebot akzeptiert hätten, um ihre Behandlung fortsetzen zu können. Sie sind inzwischen wieder in der Klinik und wollen sich dem Tagesspiegel gegenüber nicht zu den Vorgängen und Vorwürfen äußern.
Die Wiegmann-Klinik wiederum beruft sich in ihrer Stellungnahme darauf, wie maßgeblich der Therapieerfolg von dem Vertrauensverhältnis zwischen Therapeut und Patient abhänge. Das Schreiben an die Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie war aus Sicht der Patienten erfolglos. Man habe die Schrift zwar an die Klinik weitergeleitet, die Reaktion sei aber mehr als unbefriedigend gewesen, berichten Emma und Stefan. Der zuständige Sachbearbeiter habe sie am Telefon darüber informiert, dass die Klinik nur auf individuelle Beschwerden unter Klarnamen eingehen würde, nicht auf anonyme Schreiben.
Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf hat mehrere Patientenberichte gesammelt und an die Krankenhausaufsicht weitergeleitet. Eine kritische Überprüfung des Entlassungsmanagements und der Nachsorge sei auf jeden Fall notwendig, betont Bezirksstadtrat Wagner. Die Krankenhausaufsicht werde die Beschwerden auswerten und in Absprache mit der Patientenfürsprecherin aufarbeiten, um dann an die Klinikleitung heranzutreten.
Amélie Baasner
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: