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Der Beat der Stadt: Dimitri Hegemann machte mit dem "Tresor" Berlin zum Zentrum der Technoszene.

© Jack Nicas

Berliner Musikszene: Club-Veteranen wollen das Nachtleben in Detroit wiederbeleben

In aller Welt gilt die verfallene US-Industriemetropole als Beispiel für das Scheitern des amerikanischen Traums. Für eine Gruppe von Berliner Club-Veteranen ist sie die gelobte Stadt, sie wollen die dortige Szene wiederbeleben.

„Wäre ich noch mal 23, würde ich nach Detroit ziehen“, sagt Dimitri Hegemann, 60, Gründer des „Tresor“-Clubs, der die Berliner Techno-Szene einst weltweit berühmt machte. Und David Bowie, der das Berlin der 1970er Jahre zu seiner vorübergehenden Heimat machte, „der ginge dort auch hin“.

Hegemann und viele seiner Mitstreiter in der Berliner Clubszene sind wie verzaubert von Detroit, manche nennen die Stadt im Südosten von Michigan schon das nächste Berlin. Die schrumpfende Metropole, deren besten Jahre als Industriezentrum lange vorbei sind, hat für sie alle Zutaten für eine Wiedergeburt als Mekka der Underground-Kultur: Verlassene Gebäude, billige Mieten und einen düsteren Ruf. „Alles steht bereit“, sagt Hegemann, ein entspannter Mann mit fließendem, blondweißem Haar. „Jetzt fehlen nur noch die Menschen.“

Hegemann leitet ein Projekt, dass sich Detroit-Berlin-Connection nennt. Es ist der Versuch einiger der wichtigsten Akteure des Berliner Nachtlebens, die US-Stadt so wiederzubeleben wie einst Berlin nach dem Fall der Mauer.

Zwölf Berliner reisten nach Detroit

Vor ein paar Monaten reisten zwölf Berliner nach Detroit und veranstalteten ein Symposium darüber, was die Stadt von Berlins Wiedergeburt seit 1989 lernen kann. Darunter die Chefs des Kreativdorfs „Holzmarkt“, des Musicboards Berlin und der Club Commission. Sie hielten Vorträge darüber, wie man eine Musik-Szene pflegt, die Bürokratie umgeht und leerstehende Gebäude mit neuem Leben füllt. Die Beteiligten betonen, dass es ihnen nicht um geschäftliche Interessen geht. Sie wollen Detroit etwas zurückgeben.  Dafür, dass Ihnen die Stadt einst etwas gab, das für die Wiederbelebung Berlins enorm wichtig war: den Techno.

Als Hegemann 1987 die USA besuchte, entdeckte er eine in Deutschland unveröffentlichte Platte mit merkwürdigen, industriell klingenden Sounds. Er rief die Nummer des Labels an, am anderen Ende war eine Gruppe von jungen, schwarzen DJs aus Detroit, darunter der damals 24-jährige Jeff Mills, der später den legendären Techno-Club „Underground Resistance“ aufmachte. Die Musik „erinnerte mich an Fabrikgeräusche“, erinnert sich Hegemann. „Später habe ich dann mitbekommen, dass jeder in Detroit mindestens einen Verwandten hat, der einst in der Autoindustrie arbeitete.“

Hegemann veröffentlichte das Album in Deutschland und brachte die DJs aus Detroit 1990 zu seinem Musik- und Kunstfestival „Berlin Atonal“. Mills, inzwischen ein bekannter DJ in Paris, erinnert sich an Kreuzberg kurz nach dem Fall der Mauer: „Wir schliefen in einer Wohnung ohne Zentralheizung – also legten wir uns einfach rund um den Ofen.“

In den Neunzigern explodierte die Techno-Welle in Berlin

Während die DJs in Detroit eher bescheidenen Erfolg hatten, explodierte die Techno-Welle in Berlin. Die Musik wurde zum Soundtrack für endlose Tanzpartys in verlassenen Orten der Nach-Mauerstadt. So wie das unterirdische Gewölbe unter dem ausgebombten und später ganz abgerissenen Wertheim-Kaufhaus an der Leipziger Straße, in dem Hegemann 1991 seinen „Tresor“ eröffnete. Inzwischen ist die Musik „ein unglaublicher Wirtschaftsfaktor geworden“, sagt Hegemann. Millionen von Besuchern kamen und kommen deswegen nach Berlin.

Ein erster Schritt auf einem ähnlichen Weg für Detroit könnte sein, dass auch dort die verlassenen Gebäude wieder belebt werden. So wie es Hegemann 2006 in Berlin erneut gemacht hat: Da übernahm er ein verlassenes Kraftwerk an der Köpenicker Straße und verwandelte es in einen 8000-Quadratmeter-Event-Raum. Im Keller eröffnete er den „Tresor“ neu. Und auf dem Dach siedelte er 120 000 Bienen an, deren Honig er im Keller verkauft. „Wir nennen es Techno-Honig“, sagt er. „Eine natürliche Energiequelle.“

Der verfallene Bau sieht aus wie eine Filmkulisse

Jetzt hat sich Hegemann Gebäude in Detroit ausgesucht, die sich auf ähnliche Weise zurückerobern lassen. In eines hat er sich richtig verliebt: ein ehemaliges Werk für Autoteile, das seit zwei Jahrzehnten leer steht und der Stadt gehört, „Fisher Body 21“. Der verfallene sechsstöckige Bau sieht aus wie die Kulisse für einen postapokalyptischen Film: Hunderte zerbrochener Fenster, mit Graffiti übersäte Wände, überall Spuren früherer Besetzer.

In Detroit will Dimitri Hegemann nun Gebäude wie das einstige Autowerk „Fisher Body 21“ mit neuem Leben füllen.
In Detroit will Dimitri Hegemann nun Gebäude wie das einstige Autowerk „Fisher Body 21“ mit neuem Leben füllen.

© Matthew Lewis

„Dieses Gebäude hat eine besondere Aura“, sagt Hegemann. 15 Mal war er bislang dort zu Besuch, im November ist er wieder da, um sich mit Verantwortlichen der Stadt zu treffen. Er will eine Etage leerräumen und ein Pop-up-Restaurant einrichten, eine Ausstellungsfläche oder ein Areal mit Arbeitsplätzen für Start-Up-Unternehmen – und vielleicht sogar einen Techno-Club.

Raquel Castañeda-López, Mitglied im Detroiter Stadtrat, die das „Kraftwerk“ bei einem Berlin-Besuch kennenlernte, sagte zu Hegemanns Idee für Detroit, sie stehe hundertprozentig dahinter. Demnächst will sie um Unterstützung werben.

Immobilienentwickler Ed Siegel ist ebenfalls mit Hegemann über dieses und andere Projekte im Gespräch und freut sich über das Interesse aus Berlin. Aber er warnt auch davor, dass viele Detroiter skeptisch sind, wenn Leute von außen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt nehmen wollen. „Wir müssen die romantische Idee, die es international von Detroit gibt, damit in Einklang bringen, was die Bürger hier wollen“, sagt er.

Noch skeptischer sieht das Sebastian Meissner, ein deutscher Musikproduzent und Radiojournalist mit guten Verbindungen nach Detroit. Hegemanns Projekt habe „sehr beschränktes Potenzial“, sagt er. US-Visabeschränkungen machten es deutschen DJs nicht leicht, in Detroit zu arbeiten, und das Gebäude, das Hegemann ins Auge gefasst hat, ist eine „Ruine von einer Ruine“. Sprich: „Es wäre einfacher, es einfach abzureißen und Stein für Stein etwas Neues daraus zu bauen.“

Ein anderes Projekt schwebt Katja Lucker vor, der Leiterin des Musicboards Berlin. Sie überlegt, ein Künstler-Besuchsprogramm in Detroit zu fördern. „Die Menschen joggen auf den Straßen, weil hier kaum Autos fahren, und überall ist es grün“, schwärmt sie. „Da wäre es doch eine gute Idee, erholungsbedürftige Berliner Künstler zum Auftanken dort hinzuschicken.“ Erika Mayr, Gärtnerin und Mitbesitzerin der Kreuzberger Mysliwska-Bar, hilft schon seit Jahren Detroitern dabei, leere Flächen für die Bienenzucht zu nutzen. Das schaffe Jobs und verbessere die Lage in den Kiezen. Aber es fällt ihr schwer zu erklären, wieso sie und andere Berliner so erpicht darauf sind, eine Stadt am anderen Ende der Welt zu retten. „Ich weiß es nicht“, sagt sie. „Wir sind da hingekommen und haben uns in den Ort verliebt – da gibt es einfach irgendwie eine Verbindung mit Berlin.“

Unser Autor Jack Nicas ist Reporter des „Wall Street Journal“ in Chicago. Kürzlich war er mit dem Arthur-F.-Burns-Journalistenprogramm zu Gast beim Tagesspiegel. Mehr über das Berlin-Detroit-Projekt hier: detroitberlin.de/connection

Jack Nicas

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