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KI-Assistenzsysteme sollen helfen, Corona-Auflagen zu erfüllen und Diebstähle zu vereiteln, die Ladendetektive nicht erkannt haben.

© Reuters/Eva Plevier

Corona-Regeln erfüllen und Ladendiebstahl verhindern: Wie Künstliche Intelligenz dem Handel in der Krise helfen soll

Berliner Start-ups wollen Einzelhändler mit Systemen der künstlichen Intelligenz ausrüsten. Ein sensibles Milliardengeschäft.

Ohne Einkaufswagen oder -korb keinen Zutritt! So lautet die Regel bei den meisten Einzelhändlern, um die Zahl der Besucher im Laden zu regulieren.

Seit der Coronakrise stehen die Kunden – wie etwa kürzlich vor der Filiale einer Drogeriekette in Tempelhof – die Kundinnen und Kunden in der Schlange vor dem Eingang und warten, bis jemand herauskommt, um einen frei gewordenen Korb an den Nächsten zu übergeben. Wegen der Corona-Beschränkungen dürfen nur 25 Menschen in den Laden.

Auch vor dem KaDeWe, das seit einer Woche nach einer Klage auf ganzer Fläche wieder öffnen darf, stehen „Doormen“ in dunklen Anzügen, die aufpassen, wie viele Personen hineingehen: Es darf rechnerisch nur ein Kunde pro 20 Quadratmeter Verkaufsfläche im Haus sein.

Heute sind es Menschen, die Kunden abzählen und Streifen auf den Boden kleben, damit Besucher zwei Meter Abstand halten, und darauf achten, dass der Einkauf nur mit Mundschutz gestattet ist. Es braucht sie, um schnell die Hygienevorschriften und Corona-Beschränkungen um- und durchzusetzen. In Zukunft dürften Maschinen – sogenannte smarte Assistenzsysteme – diese Aufgaben übernehmen.

Das jedenfalls ist die Prognose etlicher Unternehmen, die sich auf maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz (KI) spezialisiert haben. Auch bei den Anwendern im Handelsverband Deutschland (HDE) heißt es: „Sicherlich werden langfristig immer mehr Händlerinnen und Händler sich für KI-basierte Systeme entscheiden, um ihre Prozesse auf der Ladenfläche zu optimieren.“

Smarte Assistenzsysteme für den Handel basieren auf KI und Deep Learning

Einer, der sich damit auskennt, ist Philipp Müller. Er ist Geschäftsführer des Start-ups Signatrix und Leiter der Retail-Gruppe des KI-Bundesverbandes. Die 14 Mitarbeiter des Unternehmens aus Berlin-Halensee entwickeln seit ihrer Gründung vor drei Jahren solche smarten Assistenzsysteme auf Basis künstlicher Intelligenz und Deep Learning in Verbindung mit Bildverarbeitung, zum Beispiel für die Detektive in Warenhäusern und Supermärkten.

Philipp Müller, Vorstand bei Signatrix - ein Start-up, das Handel und KI vereint.
Philipp Müller, Vorstand bei Signatrix - ein Start-up, das Handel und KI vereint.

© Promo

Mithilfe der Signatrix-Software können die im Laden installierten Kameras alle Einkaufswagen- und -körbe optisch erkennen und so sicherstellen, dass zum Beispiel kein Wagen mit unbezahlter Ware den Supermarkt verlässt. „In vielen Supermärkten ist das Konzept so, dass die Kunden durch große, schrankenlose Eingänge hineingehen und direkt vor der Obst- und Gemüseinsel stehen“, schildert Müller.

Doch so ein offenes Konzept verleite Diebe dazu, den vollen Einkaufswagen aus dem Eingang nach draußen zu fahren. „Große Supermarktketten verlieren jedes Jahr durchschnittlich 1,3 Prozent ihrer Umsätze aufgrund von Diebstählen“, sagt Müller. Mit Hilfe der KI seiner Firma können solche „Push-Outs“ verhindert werden, indem das System mitgebrachten Inhalt von unbezahlter Ware unterschiedet und durch Sensorik erkennt, ob sich ein Einkaufswagen in die falsche Richtung bewegt.

Ein Signal informiert den Ladendetektiv oder das Personal. Auch müssen Kassierer nicht mehr aufstehen und sich umständlich über das Band beugen, um zu sehen, ob noch Ware im Wagen liegt – das alles erledigt künftig das elektronische Assistenzsystem.

Körperlicher Kundenkontakt kann vermieden werden, was mehr Gesundheitsschutz bedeutet

Diese Technologie könne nun auch besonders in Zeiten der Corona-Verordnung, die der Handel befolgen muss, eingesetzt werden. So zähle das System, das Müller und seine Kollegen anbieten, nicht nur, wie viele Leute in ein Geschäft gehen und ob sie einen Einkaufswagen bei sich führen, sondern auch, ob die Leute, die in den Laden gehen, zum Beispiel eine Schutzmaske tragen, sagt Müller. Sein Unternehmen sei mit verschiedenen Supermarktketten im Gespräch.

„Smarte Assistenzsysteme erleichtern es vielen Händlerinnen und Händlern, die mit der Covid-19-Pandemie einhergehenden Auflagen zu erfüllen. Ein weiterer Vorteil der Systeme sei, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den engen körperlichen Kontakt zu Kunden vermeiden können. Das ermöglicht einen größeren Gesundheitsschutz“, sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des HDE, Stephan Tromp.

Klar sei aber auch: „Eine App oder KI-Anwendung ist kein Allheilmittel und schützt weder vor Ansteckung noch den wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns.“

Vor drei Jahren musste ein Pilotversuch aus Datenschutzgründen abgebrochen werden

Hinzu kommt: Längst ist nicht ausgemacht, dass Kunden hierzulande diese Form von Technikeinsatz, der ihnen keine erkennbaren Vorteil bietet, akzeptieren. Vor drei Jahren hatte ein Pilotversuch der Supermarktkette Real die Branche in Aufruhr versetzt: Diese hatte in 40 von 285 ihrer Filialen eine Gesichtserkennung installiert, die überprüfen konnte, wer auf Werbebildschirme schaut. Das System analysierte Geschlecht und Alter und speicherte diese Informationen samt der Dauer des Blickkontaktes ab. Nach Protest von Datenschützern sei das Experiment beendet worden, hieß es.

„People Sensing“, also mithilfe von hochpräziser Personenzählsensoren ausmachen, wie viele Leute in einen Laden gehen, aber auch, ob es eine Frau, ein Mann oder ein Kind ist, ist das, was das Unternehmen Hella Aglaia mit Sitz im Ullsteinhaus in Tempelhof anbietet. „Automatic Access Control“ – also eine automatisierte Zugangskontrolle – sei das Produkt, wofür sich die Händler nun bei ihnen interessierten, sagt Fritz Lembke, Vertriebschef bei Hella Aglaia.

„Es gibt derzeit keine Supermarkt- oder Discounterkette, die nicht nachfragt“, behauptet er. Die Methode, die seit Ausbruch der Pandemie angewandt wird – eine bis zwei Personen stehen vor der Ladentür und zählen die Kunden beziehungsweise genutzten Einkaufswagen –, sei viel zu teuer. „Eine Person muss für die ganze Schicht bezahlt werden. Das ist eine Tätigkeit, die gesteigerte Aufmerksamkeit verlangt.

Die Personenzählung durch Sensoren sei präziser als die von Menschen

Es müssen also regelmäßig Pausen gemacht werden, was wiederum bedeutet, es braucht viel Personal, um einen Zugang den ganzen Tag zu regeln“, erklärt Lembke. Außerdem sei die Methode für Fehler anfälliger als bei einem automatisierten System. „Unsere Personenzählung ist sehr präzise und misst die Auslastung in Echtzeit.“

Der aktuelle Stand, also ob der Laden voll ist oder nicht, werde dann über Endgeräte, wie Bildschirme, ausgespielt – zum Beispiel ein rotes Kreuz oder ein grüner Haken. Die präzise Zählung sei wichtig, wenn es irgendwann einmal um eine Nachweisführung geht, die die Händler liefern müssen, glaubt der Vertriebsleiter. Für die Dokumentation für Behörden reiche dann kein Schätzwert.

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Schon vor Corona hat Hella Aglaia ihre Systeme dem Handel – vor allem großen Warenhäusern – angeboten. Denn ihre Software kann Kundenströme analysieren: Welche Gruppe geht wann in den Markt und interessiert sich für welche Produkte? Das sei wichtig für die Strategie der Händler, da sie so erfahren können, wann und wo sie Werbung einspielen, welche Hintergrundmusik laufen muss und zu welcher Tageszeit mehr Personal benötigt wird.

Beim Lebensmitteleinzelhandel waren diese Systeme, die große Warenhäuser schon länger nutzen, vor Corona kaum gefragt, erzählt Lembke. „Denen hat anhand der Kassenbons gereicht, zu sehen, wie viel gekauft wurde“, schildert er. Doch nun zöge der Lebensmittelhandel nach, „das ist der Markt, für den unsere Sensoren jetzt aufgrund der Corona-Beschränkungen wichtig werden“.

All das, was mit dieser hochpräzisen Technologie von Hella Aglaia analysiert werde, werde nicht gespeichert und es würden keine personenbezogenen Daten erhoben, betont Lembke. „Das, was wir anbieten, ist DSGVO konform“, sagt er – es entspreche also der Datenschutzgrundverordnung.

Wie man das sicherstellen könne? „Wir haben das von einem unabhängigen Institut prüfen lassen und können das ePrivacySeal bieten – ein Datenschutzgütesiegel.“ Lembke ist überzeugt, dass die smarten Assistenzsysteme schon bald in den Märkten ankommen werden. „Viele Ausschreibungen laufen derzeit. In den nächsten Wochen oder Monaten werden wir diese Systeme in den Läden sehen“, glaubt Lembke.

Stephan Tromp vom HDE ist da zurückhaltender: „Sicherlich werden langfristig immer mehr Händlerinnen und Händler sich für KI-basierte Systeme entscheiden, um ihre Prozesse auf der Ladenfläche zu optimieren. Kurz- und mittelfristig sind die wenigsten Einzelhändler in der Lage, die für KI-Systeme notwendigen Investitionen zu tätigen.“ Denn der Handel hat derzeit enorme Umsatzeinbrüche. Die Schlange vor den Einkaufskörbchen wird uns also noch etwas erhalten bleiben.

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