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Die jungen Alten: Das Beste kommt zum Schluss

Renate Hiller ist 71 und steht mitten im Leben: Zwischen Sport, Kultur, Treffen mit Freunden und dem Ehrenamt ist keine Zeit für Langeweile. Menschen wie sie, die jungen Alten, sind ebenfalls Teil des demografischen Wandels in Berlin.

Moment, ich hole mal eben meinen Kalender“, ist einer ihrer Lieblingssätze. Ohne den könnte Renate Hiller ihre vielen Termine nicht mehr koordinieren. Montags Fitness, dienstags Chor, mittwochs Walken, donnerstags Doppelkopf, Philharmonie, Museum, Theater, Fahrradtour – die Liste ihrer Aktivitäten scheint endlos. „Das Leben ist doch wunderbar“, sagt Renate Hiller. Den grünen Lidschatten hat sie passend zum Leinenhemd ausgesucht, ein frischer Kontrast zum schneeweißen Haar, das sie kurz trägt, ohne modisches Gedöns. Sie nennt sich selbst „einen dieser Grauköpfe“, eine schönere Umschreibung für Seniorin oder gar Alte. Was heißt schon alt? Renate Hiller ist 71 und steht mitten im Leben.

Die Grauköpfe um sie herum werden immer mehr. Die Lebenserwartung der Berliner ist in den Jahren 1990 bis 2007 um rund fünf Jahre gestiegen, 2009 betrug der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung bereits 19,1 Prozent. Nach einer Prognose des Senats wird sich bis 2030 die Anzahl der Über-80-Jährigen nahezu verdoppeln und die Zahl der 65- bis 80-Jährigen wird um 14 Prozent steigen. Grauköpfe, wohin man sieht. Aber wenn man Menschen wie Renate Hiller begegnet, wirkt die Prognose nicht bedrohlich. Menschen wie sie sind der Gegenpol zu jenen Pflegebedürftigen, vor deren Zunahme Politiker warnten, als sie vor Jahren den demografischen Wandel als Thema entdeckten. Inzwischen hört man gelassenere Töne. „Wir reden von Chancen, nicht von Problemen“, sagt Franz Dormann, Geschäftsführer des Vereins Gesundheitsstadt Berlin, der den heute beginnenden Kongress „Zukunftsforum Langes Leben“ in Berlin organisiert. Im Hotel Maritim treffen sich bis morgen hochkarätige Vertreter der Bereiche Wohnen, Gesundheit, Forschung, Arbeitsmarkt und Wirtschaft. Sie wollen Programme diskutieren, Projekte und Ideen zusammenbringen. „Wir glauben, dass demografischer Wandel nicht unbedingt mit einem höheren Ressourcenverbrauch einhergeht“, sagt Dormann.

Das Alter als Chance. Keinesfalls durfte das Wort „alt“ im Titel des Forums auftauchen. Viele fühlen sich da nicht angesprochen. Sie sind aktiv, fit, sie sind ein Wirtschaftsfaktor. Auch wenn die gerade veröffentlichten Zahlen belegen, dass die Altersarmut in Berlin steigt: Menschen zwischen 65 und 80 Jahren weisen in Deutschland die höchste Konsumquote auf. Zwar liegt die Kaufkraft der Rentner insgesamt unter jener der Berufstätigen, doch laut Studien geben die Berliner Senioren noch deutlich mehr Geld aus als ihre bundesdeutschen Altersgenossen.

Und viele Ältere leisten noch Einiges für die Gesellschaft, meist im Ehrenamt. Seit fast zwölf Jahren fährt Renate Hiller jeden Sonntagnachmittag mit dem Fahrstuhl eines Neuköllner Neubaus in eine andere Welt. Eine Welt, die ihr jede Woche aufs Neue zeigt, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann. Das Hospiz Ricam begleitet Menschen auf ihrem letzten Weg. „Ich neige dazu, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, da bringt mich diese Arbeit auf den Boden zurück“, sagt die 71-Jährige. Der Ort hat nichts vom düsteren Klischee eines Sterbehospizes. Viele der hellen Räume sind geschmückt, überall stehen Blumen, auf der Dachterrasse wird im Sommer gegrillt, es gibt ein Klavier. „So schön wie hier ist es in keinem Krankenhaus“, sagt Renate Hiller. Man merkt ihr an, wie gern sie herkommt. Neben all ihren Aktivitäten hat sie so das Gefühl, „etwas sehr Sinnvolles zu tun“. Jeden Sonntag belädt sie dort den Servierwagen mit Tellern, Tassen und selbstgebackenem Streuselkuchen. Dann besucht sie jeden Patienten, unterhält sich mit ihm, spielt Karten, liest etwas vor oder singt. Nur wenn eine Kerze und ein kleiner Blumenstrauß vor der Tür stehen, weiß sie: Der ist nicht mehr da.

Renate Hiller ist viel unterwegs – trifft fast überall vor allem Frauen. „Ich stelle mir oft die Frage: Wo sind all die Männer?“ Laut Statistik steigt mit zunehmendem Alter auch der Frauenanteil, in Berlin liegt er ab 80 Jahren bei mehr als 60 Prozent, bei den über 90-Jährigen sind es sogar mehr als 80 Prozent. Die Freundinnen von Renate Hiller sind Witwen, andere sind geschieden wie sie selbst. Sie wohnt seit Jahren allein und hat sich daran gewöhnt. Wenn man mit 71 Jahren noch so fit ist wie Renate Hiller, kann man das Problem bekommen, dass die Angehörigen Ängste und Sorgen nicht ernst nehmen. „Ach was, du wirst noch hundert“, sagen sie.

Das ist bei vielen Berlinern inzwischen nicht mehr so unwahrscheinlich. Bereits 2007 hat der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) den demografischen Wandel zur Chefsache erklärt. Zwar wurde im Juni 2009 ein 91 Seiten starkes Konzept von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vorgelegt – von der groß angekündigten Aufrüstung der Stadt für den demografischen Wandel ist aber nicht viel zu sehen. „Es geht um die großen Themen: Wohnen, Verkehr und Mobilität“, sagt Behördensprecher Mathias Gille. Mobilität heißt vor allem: Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr, wo bis 2013 die Hälfte aller U-Bahnhöfe mit Fahrstühlen ausgestattet werden, und die Einführung des Seniorentickets. Regierungssprecher Günter Kolodziej sagt, Berlin habe in diesem Bereich „Modellcharakter“. Auch die Einrichtung von Seniorenaktivplätzen kann laut Gille als Erfolg gewertet werden. Im Preußenpark in Wilmersdorf wurde 2007 der erste „Seniorenspielplatz“ Berlins eröffnet, einen weiteren gibt es im Lietzenseepark in Charlottenburg. Bis heute verirrt sich „die Zielgruppe“ aber nur selten auf die Stepper und Sitzfahrräder dort.

Renate Hiller weiß nicht, wie lange es ihr noch so gut gehen wird, aber sie ist vorbereitet. Ihre Patientenverfügung hat sie immer bei sich, macht sich viele Gedanken um ihre Wohnsituation. Inzwischen akzeptiert sie ihr Alter. Wenn ihr jemand das nagelneue Fahrrad hinunter zur S-Bahn trägt, nimmt sie das gern an. Das Knie macht beim Bergwandern und Tennisspielen nicht mehr mit, aber ganz auf Sport verzichten will sie deshalb nicht. Zweimal in der Woche geht sie Walken, zweimal ins Fitnessstudio in Steglitz. Wieso auch nicht? Es gilt als wissenschaftlich erwiesen, dass Sport und viele soziale Kontakte lebensverlängernd wirken. „An dem Satz ,Man ist so alt, wie man sich fühlt‘ ist schon etwas dran“, sagt Altersforscherin Claudia Voelcker-Rehage von der Jacobs Universität Bremen. „Das subjektive Empfinden fürs Alter kann wichtiger sein als das objektive.“

Das merken auch die Vereine. 12,3 Prozent der Über-50-Jährigen waren 2009 in Berlin in Sportvereinen organisiert. „Dabei handelt es sich schon länger nicht mehr nur um den klassischen Gesundheitssport wie Gymnastik und Rückenschule“, sagt Katja Sotzmann, Seniorensportbeauftragte des Landessportbunds Berlin (LSB). Das Fitnessstudio Nippon in Steglitz hat bereits vor 15 Jahren Karate für Senioren angeboten. Heute sind gut 300 der 1100 Mitglieder über 65. „Ich fühle mich hier wohl, weil noch mehr Grauköpfe herumlaufen“, sagt Renate Hiller. Und dann muss sie schon wieder los. Am Abend trifft sie sich mit Freunden am Lietzensee auf ein Bier.

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