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Autoren, Bücher, Clowns. Ohne Veranstaltungsprogramm dürfte die Amerika-Gedenkbibliothek am Sonntag nicht geöffnet haben.

© Kai-Uwe Heinrich

Der 101. offene Sonntag in der Bibliothek: Wenn die Lachyoga-Polonaise um die Bücherregale zieht

Eigentlich sind Bibliotheken am Sonntag zu. So verlangt es das Arbeitsrecht. Die Amerika Gedenkbibliothek trickst die Sonntagsschließzeit aus.

Diesen Sonntag, den 101. offenen, feiert das Team vom „Sonntagsbureau“ mit einem Sonderprogramm, Blaskapelle und Torte. Grund zur Freude ist nicht nur, dass es gelungen ist, dem Gesetz so lange zu trotzen, sondern dass die Aktion, die als Experiment an der Amerika Gedenkbibliothek (AGB) am Blücherplatz begonnen hatte, seit mittlerweile zwei Jahren ausgesprochen erfolgreich läuft.

Das Ausgangsproblem ist ein schlichter, gut gemeinter Satz im Arbeitszeitgesetz, Paragraf 9, Absatz 1: „Arbeitnehmer dürfen an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen von 0 bis 24 Uhr nicht beschäftigt werden.“ In der Konsequenz ist der gängige Betrieb von Bibliotheken an Sonntagen untersagt.

Das Gesetz soll Arbeitnehmer, wie Bibliothekare, schützen, lässt aber genau die, die wochentags in Vollzeit arbeiten, in ihrer Freizeit den Preis zahlen: Zur Nutzung des Bildungsangebots bleiben ihnen nur einige Stunden am Samstag, in denen meist auch Wocheneinkäufe und andere Haushaltsarbeiten erledigt werden müssen – hat man dann mal Zeit, sind viele Bibliotheken schon zu.

Eine Ausnahme räumt das Gesetz aber für Veranstaltungen ein, die auf die Freizeit zielen. Es dürfen dabei zwar keinerlei bibliothekarische Tätigkeiten wie Auskünfte oder Beratung verrichtet werden, die Lesesäle aber sind geöffnet und sogar die Ausleihe über Automaten ist möglich, für alle die einen gültigen Bibliotheksausweis mitbringen.

Für diese Veranstaltungen sind die bildende Künstlerin Wanda Dubrau, Kuratorin Teena Lange und Übersetzerin Bettina Sund mit ihrem Team vom Sonntagsbureau zuständig. Um die sonntägliche Ausnahmeöffnung zur Regel zu machen, hat sich die Zentrale Landesbibliothek (ZLB) das Budget für die Aktion anfangs „vom Mund abgespart“, sagt Bettina Sund. Mittlerweile soll das Land Berlin den Posten Sonntagsprogramm im Budget der AGB speziell berücksichtigen und so ein Signal in Richtung Bund senden. Denn das Konzept geht auf.

Eine reguläre Bibliothek ist das hier nicht

Der Verdacht übrigens, dass das Programm nur ein Vorwand sei, um den Bibliotheksbetrieb auch Sonntags zu ermöglichen, ist bei jedem Besuch sofort ausgeräumt: Nach regulärer Bibliothek klingt, riecht und sieht es hier einfach nicht aus.

Da spielt eine Gruppe älterer Herren, die sich hier kennengelernt haben, Tischtennis, hier feiert jemand Geburtstag während eine Lachyoga-Polonaise kichernd um die Bücherregale zieht. Politische Debattierrunden und Fachvorträge werden abgehalten, es gibt ein breites Kinderprogramm, Workshops, Stullen und Kaffee. Und die Zeitbibliothek, in der kein Buch, sondern Zeit mit einem Menschen geliehen wird, der aus seiner Expertise berichtet.

Sie machen’s möglich. Wanda Dubrau, Bettina Sund und Teena Lange (von links) organisieren das sonntägliche Programm in der Bibliothek.
Sie machen’s möglich. Wanda Dubrau, Bettina Sund und Teena Lange (von links) organisieren das sonntägliche Programm in der Bibliothek.

© Thomas Wochnik

Neben Hebammen, Imkern, Musikern und Künstlerinnen gab es einen Herrn, der einmal, ohne ein Wort Englisch zu sprechen, nach Alaska ausgewandert ist, um Gold zu schürfen. Es entstehen Freundschaften, Partnerschaften, Liebschaften. Drei Kinder sollen bereits nachweislich aus den Sonntagsbegegnungen hervorgegangen sein.

Es sind schon drei Sonntagsbabys entstanden

Dass alle Veranstaltungen tatsächlich gut besucht werden, zeigt, wie heterogen die Besucherschaft der Bibliothek ist. Menschen ohne Obdach finden hier eine warme Zuflucht, Schüler verabreden sich, um Referate vorzubereiten während unweit Künstler auf Tischen performen, jemand picknickt oder einfach ein Buch liest. Natürlich reagieren manche auch genervt auf die Aktionen.

Bedenkt man, dass mitunter bis zu 3500 Menschen aus unterschiedlichsten Hintergründen an einem einzigen Schlechtwetter-Sonntag die Bibliothek besuchen, ist die Menge der Reibungen allerdings verschwindend klein. Manchmal betreten Kinder aus bildungsfernen Haushalten wegen des Programms zum ersten Mal überhaupt eine Bibliothek. Und kommen wieder.

Das Nebeneinander ist selbst für die Macherinnen überraschend harmonisch. Eltern verbringen hier wertvolle Zeit mit ihren Kindern, Alleinstehende sind dankbar dafür, dass man im Gegensatz zu vielen Cafés ganz ungezwungen alleine einkehren kann. Konsumieren muss man dabei nichts, alles Programm ist grundsätzlich kostenfrei und man kann nach Belieben kommen und gehen.

Künstler und Redner sorgen für Unterhaltung

Das Konzept der ZLB sieht vor, die Aktion noch stärker in der Stadtgesellschaft zu verankern. Aktuell wird der größte Teil der Zusammenarbeit mit Künstlern und Rednern vom Sonntagsbureau akquiriert. Das soll sich ändern, das Team freut sich über konkrete Vorschläge zur zukünftigen Programmgestaltung, die noch enger mit der Besucherschaft entwickelt werden soll.

Das Projekt zeigt, welche Potenziale in öffentlichen Räumen schlummern, die die Funktion von Begegnungszonen schon lange erfüllen können. Wenn man sie lässt. Jeden Sonntag von 11 bis 17 Uhr trifft sich also die ganze Gesellschaft am Rande eines Paragrafen, ohne den das Treffen allerdings so kaum zustande kommen würde.

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