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Mordermittlerin Barbara Bluhm

© Gestaltung: Tagesspiegel/ Katrin Schuber/Foto: Tagesspiegel/Stefan Weger

Der Mord an Oma Dürr in Berlin: „Es war eine heile Welt, die ganz brutal zerstört wurde“

Eine Rentnerin liegt erdrosselt in ihrer Wohnung in Lichtenberg. Vieles deutet auf den Sohn als Täter. Erst zwölf Jahre später gelingt es Mordermittlerin Barbara Bluhm, das Rätsel zu lösen.

Stand:

Elisabeth Dürr, 63-jährige Rentnerin aus Lichtenberg, liegt erwürgt im Flur ihrer eigenen Wohnung. In der erstarrten Hand hält sie ein Büschel Haare, auf dem Boden liegt eine Mullbinde, Tropfen von Kunstblut. Der rätselhafte Mord wird für Barbara Bluhm der Fall ihres Lebens. In der 14. Folge des Tagesspiegel-Podcasts „Tatort Berlin“ erzählt die Kriminalhauptkommissarin, wie es ihr mit der zweiten Mordkommission gelang, das Verbrechen nach zwölf Jahren aufzuklären. Worauf sie in Vernehmungen achtet und was sie bei Telefonüberwachungen zur Verzweiflung bringt.

Frau Bluhm, erinnern Sie sich an den Tag, an dem der Fall Dürr in Ihr Leben trat?
Es war das Jahr 2006, mein erster Tag in der Mordkommission. Mein Chef packte mir eine riesige Akte auf den Tisch und sagte: Das ist jetzt übrigens dein Fall! Auf dem Deckel stand der Name Elisabeth Dürr und sagte mir zunächst überhaupt nichts.

Ein ungelöster Fall der zweiten Mordkommission. Die Frau aus Alt-Hohenschönhausen war am 12. September 2001 getötet worden.
Der erste eigene Mordfall bleibt immer etwas Besonderes. Dabei brachte ich ja eine jede Menge Berufserfahrung mit aus der Direktion 1, wo ich Rohheitsdelikte bearbeitet habe.

Also unter anderem Raub, räuberische Erpressung, gefährliche Körperverletzung…
Trotzdem hatte ich, als ich in der Keithstraße anfing, ein bisschen Muffensausen, fragte mich: Wirst du dieser Herausforderung gewachsen sein?

Sie haben also an Ihrem ersten Arbeitstag angefangen, den Fall Dürr nochmal ganz von vorne aufzurollen?
Tatsächlich meldete sich am selben Abend eine Zeugin, als ich abends noch alleine im Büro war, um meinen Schreibtisch einzuräumen. Ich hielt es erst für einen Telefonscherz meiner neuen Kollegen. Es war ein irrwitziger Zufall. Wir haben die Nachbarin von Frau Dürr am nächsten Tag aufgesucht, aber um den Fall neu aufzurollen, haben wir drei Anläufe gebraucht.

Warum?
Weil ständig neue Fälle dazwischenkamen, die dann vorgehen müssen.

Aber immer, wenn mal Zeit war, haben Sie die Akte wieder hervorgeholt?
Es war eine Wahnsinnsarbeit, nochmal von vorne zu beginnen, aber wir waren alle überzeugt davon, dass das Rätsel zu lösen sein muss. Wir hatten Spuren und Beweise und wirklich gute Ansätze, aber alles führte immer wieder ins Nirwana.

Sie haben eine Aufklärungsquote von über 90 Prozent. Was war an Oma Dürr so schwierig?
Es sah alles danach aus, dass sich Täter und Opfer gekannt haben müssen. Frau Dürr war eine sehr misstrauische Person und hätte niemals einen Fremden in ihre Wohnung gelassen. Mehrere Anwohner hatten am Tatabend eine unbekannte Frau in der Straße beobachtet. Die Fremde war dann auch mit einer Nachbarin ins Haus geschlüpft.

Aber diese Zeugin war trotz Phantombild nicht mehr aufzutreiben?
Wie es manchmal kommt: Pleiten, Pech und Pannen. Wir haben uns die Turmdaten aus der Funkzelle geholt, aber leider zu spät gemerkt, dass uns der Netzbetreiber die falschen Turmdaten geliefert hat.

Geheimnisvolle Unbekannte. Mehrere Zeugen hatten eine Frau rauchend vor dem Haus von Elisabeth Dürr beobachtet. Die eingesammelten Kippen führen die Ermittler aber erstmal nicht auf die richtige Spur.

© Gestaltung: Tagesspiegel/ Katrin Schuber | Foto: imago

Wie das?
Es ist erst rausgekommen, als wir Kontakt zu einem Mann aufnahmen, der zur fraglichen Zeit in der Joachimsthaler Straße telefoniert hatte. Er beharrte darauf, dass weder er noch sein Handy jemals in Alt-Hohenschönhausen gewesen seien. Zumal er sich noch ganz genau an den 12. September 2001 erinnern konnte. Das war der Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center. Er hatte in seinem Büro in der Joachimsthaler Straße gearbeitet, aber eben in Charlottenburg. Die richtigen Daten waren zu diesem Zeitpunkt bereits gelöscht.

Wie geriet der Sohn von Frau Dürr ins Visier?
Der Sohn arbeitete als Hausmeister in einer Schule und hatte sich mit seiner Lebensgefährtin gerade ein Haus in Halberstadt gekauft, was ihm nur möglich war, weil sich Frau Dürr an dem Kauf finanziell beteiligte. Der Sohn und seine Freundin hatten an dem Tag der Tat bei einem Notar den Kaufvertrag unterschrieben.

Und das kam Ihnen verdächtig vor?
Sehr sogar, aber damit hatten die beiden ja das perfekte Alibi. Wir haben dann eine Fallanalyse in Auftrag gegeben.

Die Kollegen der Operativen Fallanalyse sitzen im selben Haus. Umgangssprachlich werden sie auch Profiler genannt. Zu welchem Ergebnis kamen die Kollegen?
Dass es sich um einen Auftragsmord gehandelt haben könnte. Der Pfeil, der auf den Sohn zeigte, war wirklich feuerrot.

Wie hat der Sohn reagiert, als sie ihn 2010 mit diesem Verdacht konfrontierten?
Er war in der Vernehmung ganz ruhig und sagte: „Ja, das kann ich nachvollziehen, dass Sie mich verdächtigen, aber ich war es nicht.“ Und dann betonte er, wie froh er sei, dass wir in der Sache jetzt nochmal so hartnäckig ermitteln. Weil es ihm die Hoffnung gebe, dass der wahre Täter oder die wahre Täterin noch gefunden wird.

Haben Sie so eine Reaktion schon mal erlebt?
Ich saß da und dachte: Das gibt’s doch nicht! Der Mann steht mit den Zehen schon in der Zelle und freut sich über die intensiven Ermittlungen! Nach dieser Vernehmung war ich überzeugt, dass der Sohn nicht der Täter ist. Aber es reicht ja nicht, dass Kommissarin Bluhm ein ein Bauchgefühl hat.

Sie haben viele Jahre als Vernehmerin gearbeitet. Wie bringen Sie die Menschen dazu, die Wahrheit zu sagen?
Das Spannende ist, dass man es mit so unvorstellbar vielen unterschiedlichen Charakteren zu tun bekommt. Man muss sehr gut zuhören und beobachten können. Weil viel geschwindelt wird, ist es sehr wichtig, dass man Nuancen bemerkt und an den richtigen Stellen einhakt.

Muss man sprichwörtlich in den Kopf des Täters kriechen?
Nein, aber man muss versuchen, sich in seine Situation hineinzuversetzen. Das ist das Allerwichtigste. Es passiert eher selten, dass das Opfer wahllos ausgesucht wird oder ein Auftragskiller zuschlägt. Beim aller größten Teil der Fälle handelt es sich um Beziehungsdelikte. Es geht um persönliche Kränkungen, Eifersucht, Enttäuschungen. Oft hat die Tat eine lange Vorgeschichte, wo ein Mensch so ins Mark getroffen wird, dass für ihn Gewalt plötzlich eine Lösung ist.

Im Podcast erzählen Sie, wie es Ihnen schließlich gelang, den Mord an Oma Dürr zu lösen. Wir wollen hier nicht zu viel verraten. Wie haben Sie reagiert, als das Labor meldete, dass Sie einen DNA-Treffer haben?
Ganz ehrlich? Ich habe vor Erleichterung geweint. Weil in diesem Moment alles von einem abfällt: der Druck, das Mitgefühl, die Wahnsinnsarbeit, die wir alle da reingesteckt haben.

Im Prozess haben Sie als Zeugin ausgesagt. Waren Sie auch bei der Urteilsverkündung dabei?
Bei wichtigen Fällen, die so richtig unter die Haut gehen, fährt immer das ganze Team ins Kriminalgericht Moabit. Nicht um zu feiern, sondern um zu hören, zu welchen Schlüssen das Gericht gekommen ist und ob es unserer Beweisführung folgt. Auch dieses Mal saßen wir auf den Publikumsbänken neben der Familie von Frau Dürr. Es ist ein Lebenslang geworden.

100 bis 120 Fälle bearbeitet die Berliner Mordkommission jedes Jahr. Warum geht Ihnen dieser so nahe?
Elisabeth Dürr war eine liebevolle, selbstlose Großmutter. Ihr Sohn, die Schwiegertochter und das Kind hatten ein ganz tolles Verhältnis. Oma Dürr hat im Haushalt geholfen, für die Enkelin gekocht und war immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde. Sie wollten ja alle zusammen nach Halberstadt ziehen und Frau Dürr freute sich schon sehr auf ihren Garten. Es war eine heile Welt, die ganz brutal zerstört wurde.

Der Verdacht war falsch. Das tut einem extrem leid

Barbara Bluhm, Kriminalhauptkommissarin


Erst der Verlust, dann der Verdacht…
Das tut einem extrem leid. Diese Familie musste eine unvorstellbar schwere Zeit durchstehen. Es fühlte sich auch für mich an wie eine Erlösung, als bewiesen war, dass der Sohn damit überhaupt nichts zu tun hatte. Sein Schicksal berührt mich bis heute, wenn ich an diesen Fall denke.

Sie sind in Ihrem Team zur Expertin für die Telefonüberwachung geworden. Kommen Sie im Zeitalter der Handys noch zu irgendetwas anderem?
Die Leute stellen sich ja immer vor, dass wir Hinz und Kunz abhören, aber für eine Telefonüberwachung sind sehr hohe rechtliche Hürden zu überwinden. Obwohl wir ohne dringenden Tatverdacht keinen Beschluss vom Gericht bekommen, ist der Zeitaufwand enorm, vor allem im Bereich der Bandenkriminalität. Die Profis auf der Täterseite wechseln sehr häufig ihre Rufnummern und Handys, um ihre Spuren zu verwischen. Wenn die neuen Nummern geschaltet werden, wächst auch stetig die Zahl der Anschlüsse, die abgehört werden muss.

Ist diese Abhörerei oft nicht irrsinnig langweilig?
Ich sage immer halb scherzhaft: Die Flatrate ist der Tod der Telefonüberwachung. Es gibt Menschen, die stehen morgens auf, schalten ihr Handy ein und telefonieren ununterbrochen. Sie reden beim Einkaufen, Kochen, gehen mit dem Telefon auf die Toilette, baden und gucken Fernsehen mit ihrem Gesprächspartner. Das ist auch wunderbar, wenn man bei solchen Endlosgesprächen zuhören darf, und es alle 20 Minuten mal heißt: Haha, hast du das jetzt gesehen?

Abschalten ist keine Option?
Es gibt eben die Fälle, in denen eine Person 86 Gespräche führt, die für mich reinste Zeitverschwendung sind. Aber das 87. kann das entscheidende sein.

Und wenn nicht: War alles vergeblich?
Nicht unbedingt, denn man bekommt bei diesen Gesprächen ein sehr gutes Gefühl für den Menschen. Es ist erstaunlich, wie oft das Bild, das ich mir am Telefon mache, später mit der Realität übereinstimmt. Meine Erfahrung hilft oft dem ganzen Team. Wenn wir uns vor einer Durchsuchung beraten, werde ich gefragt: Was ist das für ein Typ? Womit müssen wir rechnen? Ist das ein Choleriker oder eher ein ruhiger Bürger?

Die zweite Mordkommission ermittelt auch im Clanmilieu. Wie läuft es da?
Wir haben sehr gute Dolmetscher, die bei der Telefonüberwachung einspringen, wenn beispielsweise Arabisch gesprochen wird. Die Übersetzer werden von uns immer auf dem aktuellen Ermittlungsstand gehalten, damit sie wissen, was wichtig werden könnte, wonach wir suchen und sie beispielsweise auch auf Synonyme für Waffen oder Drogen achten. Die erfahrenen Dolmetscher denken schon wie wir Ermittler.

Der Chef. Ingo Kexel ist Leiter der 2. Mordkommission. Er übertrug Barbara Bluhm den Altfall Dürr an ihrem ersten Arbeitstag. 

© Gestaltung: Tagesspiegel/Katrin Schuber,/Foto: Tagesspiegel/Stefan Weger

Warum sagen in der Keithstraße fast alle: einmal Mordkommission, immer Mordkommission?
Es sind die menschlichen Schicksale, die die Arbeit bei der Mordkommission so spannend machen. Nicht jeder Täter oder jede Täterin, die wir überführen, bekommt lebenslänglich. Aber die Opfer und Angehörigen, die bekommen auf jeden Fall lebenslänglich.

Wie meinen Sie das?
Kaum einer wird damit fertig, wenn ein Mensch, dem er nahe stand, ermordet wird. Von so einem Schicksalsschlag ist in einer Familie oft noch die nächste Generation betroffen. Oftmals fällt plötzlich der Ernährer weg, das ganze Leben krempelt sich für die Mutter und die Kinder um, weil die Ehefrau dann selber arbeiten gehen muss. Als besonders dramatisch und sehr belastend empfinden wir die Fälle, in denen der Vater die Mutter umbringt. Dann haben die Kinder auf einen Schlag keine Eltern mehr: Der Vater fährt ein, die Mutter ist tot. Und die Großeltern und Kinder haben alle lebenslänglich.

In diesem Sommer endet Ihre Laufbahn bei der Mordkommission: Was wird Ihnen fehlen?
Mein Team. Allein der Gedanke, diese Menschen, mit denen ich so viel erlebt habe, nicht mehr täglich zu sehen, macht mir zu schaffen. Wir haben zusammen geweint, als wir im Wald standen und ein totes Baby ausgebuddelt haben. Aber es gab auch so viele schöne Momente. Wenn alles aufgegangen ist, unsere Ermittlungen zum Erfolg führten und wir ein kleines Stück Gerechtigkeit wieder hergestellt haben.

Worauf freuen Sie sich?
Dass es diese Anrufe nicht mehr geben wird, die einen nachts um 2 Uhr bei minus 10 Grad aus dem Haus treiben, um dann an einem Tatort zu stehen, der einen für die nächsten Wochen in eine Parallelwelt katapultiert. Eine Parallelwelt, in der es kein Privatleben gibt und man sein Zuhause nur im Dunkeln sieht, um kurz zu schlafen und zu duschen.

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