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Sie verlassen den wohlhabenden Sektor. Ostdeutschland hinkt wirtschaftlich immer noch hinterher.

© Jens Bütter/dpa

30 Jahre nach dem Mauerfall: Der Ossismus muss aufhören!

Die etablierten Parteien sind selbst schuld am Erstarken der AfD im Osten. Auch diese Deutschen und ihre Nöte müssen endlich ernst genommen werden. Eine Replik.

Von Christian Hönicke

Vor zwei Wochen hat hier mein Kollege Alexander Fröhlich andere „Ossis“ aufgefordert, doch endlich mit dem Jammern aufzuhören, er nannte das „Rumopfern“. So schlecht sei die Lage nicht, um AfD- oder Pegida-Sympathie zu rechtfertigen. Doch der pauschale Ratschlag an „den Osten“, sich halt noch ein bisschen mehr in „den Westen“ zu integrieren, ist wohlfeil. Er verkennt, dass der „Osten“ überall hinterherhinkt: Löhne (-22 %), Arbeitslosigkeit (+1,8 %), geleistete Wochenarbeitszeit (+5,5 %), Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (-27 %), Vermögen (-57 %), Wohneigentum (-14 %). Das soll alles nur an der falschen Einstellung liegen?

Eine solche Denke steht in der Tradition der „Beitritts“-Gönnerhaftigkeit, wie auch das Narrativ der „Undankbarkeit“. Die Menschen im Osten müssen niemandem dankbar sein, sie haben eine Diktatur bezwungen und schaukeln auch seither nicht in der Hängematte. Dankbar sollte man eher im Westen dafür sein, dass man von potenteren Besatzermächten aufgepäppelt wurde, statt das arbeitsscheuen Ostlern als ureigene Leistung zu verkaufen. Vor dem Marshallplan war Bayern eine große Kuhweide. Schon vergessen?

Glaubt jemand ernsthaft, das seien alles Rassisten?

Die Bundeskanzlerin mag aus dem Osten kommen, aber das hat sie nicht ohne Grund bis zum Ende ihrer Amtszeit versteckt. Mit einem dezidiert ostdeutschen Profil hat man – abseits innerparteilicher Quoten – keine Chance in der Bundespolitik. Diese mangelnde Repräsentanz in etablierten Parteien und Institutionen lässt so viele im Osten der AfD auf den Leim gehen – oder glaubt jemand ernsthaft, das seien alles Rassisten?

Zu Protestsignalen sehen sich die Ostdeutschen auch gezwungen, weil es laut Prognos-Studie noch weiter abwärtsgehen wird: Deutschlands Osten droht wie der Süden Italiens dauerhaft zur zweiten Liga zu werden. Frankreichs Gelbwesten werden von vielen Deutschen bewundert – die eigenen Landsleute sollen ihr Schicksal aber still akzeptieren?

Einen Ausweg hat nur der Einzelne: Abwanderung in den Westen oder nach Berlin, die einzige Oase im Osten. Dabei verliert man leicht den Blick für die Nöte der Zurückgebliebenen. Die sind nicht selten: kein Geld, keine Stimme, keine Perspektive.

Als würde man Frauen verbieten wollen, den Gender-Gap zu thematisieren

Und die innerdeutsche Wirtschaftsmigration treibt die soziale Spaltung nur weiter voran. Sie muss gestoppt werden. Nicht nur mit Investitionen, vor allem mit einer anderen Einstellung – im ganzen Land. Wer es wirklich wiedervereinigen will, muss den „Osten“ und seine Probleme nach 30 Jahren endlich wahr- und ernst nehmen. Wenn ein Flächendrittel der Bundesrepublik wirtschaftlich systematisch benachteiligt und sozial stigmatisiert wird, muss darüber offen diskutiert werden – gerade in einer Demokratie.

Wer das „Jammern“ oder „Rumopfern“ nennt, verweigert sich diesem Diskurs. Als würde man Frauen verbieten wollen, den Gender-Gap zu thematisieren: „Tussis, hört mal auf rumzuzicken! Euch geht’s doch schon besser als vor 40 Jahren.“ Das geht gar nicht mehr, zum Glück. Die „Ossis“ sind die einzige belegbar unterprivilegierte Gruppe, die man immer noch derart abkanzeln darf. Der Ossismus muss aufhören – wer das erkennt, hat schon den ersten Schritt gemacht.

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