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Wenn noch was übrig ist. Mütter können überschüssige Milch in sogenannten Frauenmilchbänken spenden.

©  Imago

Muttermilch: „Die beste Ernährung für das Kind“

Muttermilch ist ein faszinierendes Naturprodukt. Warum ist sie so gesund? Wie wird richtig gestillt? Und was macht sie zum Lebensretter für Frühchen? Ein Gespräch mit Kinderarzt Michael Radke.

Herr Radke, Muttermilch hat ein sehr gutes Image. Ist das Stillen wirklich so viel besser als das Fläschchen?

Mutter Natur hat aus den Grundstoffen unserer Ernährung, also Eiweiße, Kohlenhydrate und Fette, ein tolles Produkt geschaffen, das ideal zusammengesetzt ist für die Ernährung unserer Nachkommen in ihrer ersten Lebensphase. Und es ist auch so kompliziert zusammengesetzt, dass man es – genauso wenig wie Blut übrigens – bisher nicht künstlich nachbauen kann. Die Fläschchennahrung ist also nur die Annäherung an das Optimum. Allerdings gibt es inzwischen zumindest in den Industrienationen einen recht guten künstlichen Ersatz. Studien zeigen, dass es bei gesunden Neugeborenen in entwickelten Ländern, die entweder Muttermilch oder eine Säuglingsersatznahrung aus dem Fläschchen erhalten, keine Unterschiede in der Gewichtszunahme, beim Wachstum und in der gesundheitlichen Verfassung gibt. Allerdings existieren in einem wichtigen Bereich dann doch signifikante Abweichungen: in der Entwicklung des Gehirns. Gestillte Babys erlangen ihre kognitiven Fähigkeiten schneller als Fläschchenkinder. Und das Stillen hat auch eine psychologische Komponente, denn es stärkt die Bindung zwischen Mutter und Kind gerade in dieser sensiblen Anfangsphase. Schließlich gewährleistet die Muttermilch die beste Ernährung für das Kind, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Die Frau hat sie immer dabei und immer in einem für ihr Kind idealem Zustand parat. Das ist doch praktisch, oder?

Hat die Muttermilch auch jenseits von Ernährung und seelischer Gesundheit Vorteile? Es ist doch immer wieder zu hören, wie wichtig sie für den Aufbau der Immunabwehr ist.

Das stimmt: Mit der Muttermilch gelangen Immunzellen und spezielle Eiweiße – sogenannte Immunglobuline – zum Kind. Sie stärken dessen Immunsystem in einer Phase, in der es noch nicht über eine ausgereifte eigene Abwehr von Krankheitserregern verfügt. Aber das war vor allem wichtig in Zeiten, in denen es kein Hygieneverständnis gab, in Europa bis vor etwa 150 Jahren. Heutzutage hat sich in den Industrienationen das Wissen über die Bedeutung der Hygiene so weit entwickelt, dass der gesundheitsfördernde Effekt der mütterlichen Immunzellen nicht mehr so entscheidend für das Überleben der Säuglinge ins Gewicht fällt.

Apropos Hygiene. Wir waschen uns die Hände, bevor wir zu Fingerfood greifen. Muss die Mutterbrust besonders sorgfältig gereinigt, ja quasi keimfrei sein, bevor der Säugling aus ihr trinken darf? Er ist ja noch sehr empfindlich, oder?

Nein, hier ist weniger eindeutig mehr. Die Milch enthält mit den Bifidobakterien ungefährliche, ja sogar nützliche Milchsäurebakterien, die das Ausbreiten von Krankheitserregern auf natürlichem Wege verhindern. Ich rate den Müttern deshalb, nach dem Stillen die Milchreste an der Brust einfach eintrocknen zu lassen. Das verschließt die Milchkanälchen und schützt davor, dass sich hier Keime einnisten, die das Kind gefährden könnten. Vor dem nächsten Stillen sollte die Frau dann die Brust einfach mit klarem Wasser reinigen. Fertig.

Wie lange sollten Mütter stillen?

Studien zeigen, dass das Kind bis zum Ende des ersten Lebensjahres idealerweise Muttermilch erhalten sollte, bis zu dessen fünften oder sechsten Lebensmonat als alleinige Nahrung. Solange heißt das Baby ja auch aus gutem Grund Säugling und nicht Essling. Danach ist dann neben der Milch auch Beikost nötig – vor allem aus Gemüse und auch hochwertigem Fleisch, das als wichtigster Eisenlieferant für den Säugling dient.

Es gibt Frauen, die ihren Kindern nicht genug Milch bieten können, andere haben mehr, als sie benötigen. Sollte man nicht allen Kindern die bessere Frauenmilch zukommen lassen, zum Beispiel über Milchbörsen, wie es sie im Internet gibt?

Von solchen Milchbanken von privat an privat muss ich strikt abraten. Man weiß nie, was man bekommt und kann zudem bei der Lagerung der Frauenmilch viel falsch machen. Sie verdirbt schneller als Kuhmilch. Da ist die Gabe der – wie gesagt annähernd optimalen künstlichen Säuglingsnahrung – die bessere Alternative. Aber in einem Bereich sind die Vorteile der Frauenmilch quasi astronomisch, nämlich bei der Versorgung von extrem frühgeborenen Kindern. Denn viele der typischen und oft lebensbedrohlichen Komplikationen bei den Frühchen lassen sich vermeiden, wenn man ihnen Frauenmilch geben kann. Oft haben deren Mütter noch keine eigene Milch, weil ihre Kinder zum Teil Monate vor dem eigentlichen Geburtstermin zur Welt kamen.

Was sind das für Vorteile?

Diese zeigen sich zum Beispiel bei Komplikationen im Darm, dessen Funktionen bei extrem frühgeborenen Kindern noch nicht fertig ausgebildet sind. Zudem sind die Kinder abwehrgeschwächt, es kommt zu lebensbedrohlichen Durchblutungsstörungen und Entzündungen des Darms. Solche Komplikationen sind nach der regelmäßigen Gabe kleiner Mengen Frauenmilch über den Mund – die Frühgeborenen werden nach der Geburt größtenteils intravenös ernährt – deutlich seltener. Und auch die Quote von anderen häufigen Komplikation bei extrem frühgeborenen Kindern, wie einer Blutvergiftung oder Hirnblutungen, ist geringer, wenn man den Kleinen Frauenmilch füttern kann. Die langfristige Entwicklung offenbart weitere Vorteile der Muttermilch. Frühgeborene Babys, die vor 30 oder 40 Jahren mit dem Fläschchen aufgezogen wurden, zeigen heute eine höhere Anfälligkeit für das metabolische Syndrom, also dem gleichzeitigen Auftreten von Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Diabetes und Herzkreislauferkrankungen, was lebensbedrohlich sein kann. Das liegt daran, dass der Eiweißgehalt der künstlichen Nahrung zu hoch war. Lange Zeit wurden Frühchen regelrecht gemästet. Da stand die schnelle Gewichtszunahme im Vordergrund aller medizinischen Bemühungen. Das ist heute nicht mehr so. Heute versuchen wir, frühgeborenen Kindern eine möglichst bedarfsorientierte und individualisierte Ernährung zu gewährleisten.

Steht denn genug Frauenmilch zur Verfügung, um Frühgeborene damit versorgen zu können?

Leider noch nicht. Deshalb setzen Kollegen und ich mich so sehr für Frauenmilchspenden und den flächendeckenden Aufbau von Frauenmilchbanken in Deutschland ein. Unser Ziel ist es, dass es ebenso einfach und geregelt möglich ist, Frauenmilch zu spenden, wie es jetzt bei der Blutspende schon erreicht ist. Dafür gibt es ja auch schon ein Vorbild: In der DDR war es gesetzlich geregelt, dass stillende Mütter ihre Milch, die sie nicht benötigten, spenden konnten. In jeder Geburtsklinik gab es eine Muttermilchbank und das Angebot, überschüssige Muttermilch zu sammeln und diese aufzubewahren für die Versorgung von frühgeborenen Kindern. Doch nach der Wende sind viele dieser Milchbanken leider verschwunden, weil man in der Bundesrepublik nicht in das Selbstbestimmungsrecht der Frauen eingreifen wollte. Wir wollen nun ein Netz von Frauenmilchbanken neu aufbauen, in der die freiwillige Spende möglich ist. Dabei wollen wir auch auf die wenigen Milchbanken, die aus DDR-Zeiten übriggeblieben sind, zurückgreifen. Hier in Potsdam zum Beispiel konnten wir die Muttermilchbank, die seit 1966 existiert, erhalten und modernisieren. Frauenmilchbanken sollten verpflichtend in jedem Perinatalzentrum etabliert werden.

Welche Ausstattung müssen Frauenmilchbanken bieten?

Frauenmilchbanken sind mit einem System zur schonenden Haltbarmachung und Lagerung der Spenderinnenmilch ausgestattet und bieten Kurierdienste und Milchpumpen an. Denn nach dem Abpumpen ist die Milch nur knapp 24 Stunden haltbar. Außerdem kann sie Krankheitserreger enthalten. Deshalb muss Spenderinnenmilch pasteurisiert, also kurzzeitig auf knapp 70 Grad erhitzt werden. Krankheitserreger, vor allem Viren, werden so unschädlich gemacht.

Das Gespräch führte Ingo Bach. Michael Radke ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Westbrandenburg in Potsdam, die auf die Versorgung von Frühgeborenen spezialisiert ist. Er leitet auch die Frauenmilchbank. 2016 wurden dort 141 Liter Milch gespendet. Diesen und weitere Texte rund um die Themen Schwangerschaft und Kinderheilkunde finden sie im aktuellen Gesundheitsführer „Tagesspiegel Mutter & Kind 2018/2019“. Er kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520 und im Zeitschriftenhandel. Frauenmilchspenden in der Frauenmilchbank Klinikum Westbrandenburg, Charlottenstraße 72 in Potsdam, Tel. 0331/24 13 59 27, und in der Frauenmilchbank der Charité ( frauenmilchbank@charite.de., Tel. 450 56 65 78). Spenderinnen müssen mehr Milch haben als ihr eigenes Kind benötigt, 800 Milliliter wöchentlich spenden können und dürfen nicht an HIV, Syphilis oder anderen Virusinfektionen erkrankt sein

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