Berlin: Die Geheimnisse des Gaumens
Die Geschichten im Halbfinale des Erzählwettberbs handelten vom Genießen
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Der Mensch ist, was er isst. Kira zum Beispiel. Sie ist wunderschön. Und doch für ihren neuen Freund eine Art wandelnde Kohlsuppe – nach Geruch und Geschmack. Ihre Küsse findet er ekelerregend. Hinterher vertreibt er das Kohlaroma mit Schokolade. Und denkt sehnsüchtig an den feinen Zimtgeruch seiner Exfreundin. Keine Frage: Die Beziehung ist zum Scheitern verurteilt.
„Wie kann eine so schöne Frau nur so entsetzlich stinken“, las der Kölner Klaus Pilger, eindringlich, aber mit einem versteckten Grinsen in der Stimme. „Kohl und Schokolade“ heißt seine skurrile Erzählung, eine von 40 Geschichten, die am Sonntag beim Halbfinale des fünften Tagesspiegel-Erzählwettbewerbs in den Museen Dahlem zu hören waren. Geschichten über Schokolade, Kaffee, Gewürze, Zucker und exotische Früchte hatte die Jury bestellt – eben über alle Lebensmittel, die einst aus fernen Ländern nach Europa kamen. Und so machten sich die Geschichtenerzähler auf die Suche nach den Abgründen und Geheimnissen des Gaumens – zwischen tönernen Schokoladengefäßen der alten Maya und Basthütten aus der Südsee.
Wie Zunge, Gaumen, Magen und Nase oft das Leben bestimmen – darum ging es in den meisten Geschichten. Kristina Matthiesen gestand, dass ihr Leben am Morgen erst nach der ersten Tasse Kaffee beginnt. Brigitte Grahl arbeitete eine traumatische Erfahrung mit der exotischen Tamarillenfrucht auf. Aber nicht nur um die schönste Geschichte geht es der Jury, auch um den besten Vortrag: In den nächsten Wochen wählt sie zehn Teilnehmer aus, die im Mai beim Finale dabei sein werden.
Vielleicht auch der 81-Jährige Exil- Schlesier Günter Knecht? Dramatisch erzählte er, wie echte schlesische Kartoffelklöße ihm nach seiner Flucht 1945 ein bisschen Geborgenheit spüren ließen. Dabei hob und senkte er seine Großvater-Erzählstimme langsam und mit viel Pathos, gurgelte mit dem „Rrrr“, kugelte und lutschte die O-Laute genüsslich im Mund – als genieße er den Geschmack der Worte.
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