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Karin Danecker

© Thilo Rückeis

Kunsttherapie: Die Heilkraft der Farben

Patienten mit psychischen Erkrankungen können durch Malen und Zeichnen ihre Ängste und Wünsche ausdrücken. Ein Gespräch mit der Professorin und Kunsttherapeutin Karin Dannecker über die Ausbildung, das Unbewusste und Joseph Beuys.

Von Heike Gläser

Karin Dannecker hat Sonder-, Kunst- und Diplompädagogik studiert, ab Mitte der 1980er Jahre Kunsttherapie an der New York University. Nach Abschluss des Master-Studiengangs, den es in Deutschland in dieser Form damals nicht gab, unterrichtete sie an der Universität Köln und der Berliner Hochschule der Künste (heute UdK). Seit 2005 ist sie Professorin für Kunsttherapie an der Kunsthochschule Weißensee. Der Studiengang findet in Kooperation mit der Kunsttherapie Berlin statt, einer Tochtergesellschaft der Park- Klinik Weißensee. Neben der Lehre ist Dannecker auch praktisch tätig. Sie bietet klinische Kunsttherapie in der Schlosspark-Klinik und in der psychosomatischen Abteilung der Park-Klinik Sophie Charlotte in Charlottenburg an.

Frau Dannecker, Joseph Beuys soll gesagt haben: „Kunst ist Therapie.“ Er glaubte an die Heilkraft der Kunst – Sie auch?

Dieses Zitat von Beuys hören wir in der Kunsttherapie oft und ich teile unbedingt diese Ansicht. Das künstlerische Schaffen ermöglicht, Zugang zu Inhalten des seelischen Lebens zu ermöglichen, die bisher unbewusst waren. Kunst ist ein Bereich, in dem man zugleich mit sich und anderen kommunizieren kann, über Gefühle, Fantasien, Ängste, Verdrängtes. Die therapeutische Wirkung liegt darin, dass man etwas vorher Unbekanntes als Teil des Selbst integrieren kann.

Zum Beispiel?

Eine Patientin sagte, sie habe durch das Malen mehr über sich erfahren als etwa in der verbalen Therapie. Denn das, was in der Kunst zum Ausdruck kommt, ist vielschichtig und kann nicht immer eindeutig interpretiert werden.

Kunsttherapie ist eine junge Disziplin. Es gibt verschiedene Ansätze, etwa tiefenpsychologische oder kunstorientierte. Welchen Ansatz verfolgen Sie?

Ich würde ihn als psychodynamische Kunsttherapie bezeichnen. Gemeint ist eine Verbindung von künstlerischem Prozess und dem Wissen über psychoanalytische Grundthemen und neuere Entwicklungen in der Psychotherapie. Die Verbindung von Kunst und Psychotherapie soll gleichwertig stattfinden. Das vermitteln wir auch in der Ausbildung.

Wer kommt zu Ihnen in die Therapie?

Die meisten Menschen kommen, weil sie Probleme haben und unter psychischen Erkrankungen leiden. In der Kunsttherapie erfahren sie, dass sie nicht nur als Patienten wahrgenommen werden, sondern als jemand, der etwas schafft und erschafft. Sie erleben einen anderen Teil von sich. Manchmal hat der nichts mit dem klinischen Problem zu tun und zeigt sogar eine gesunde Seite.

Für welche psychischen Krankheiten eignet sich denn die Kunsttherapie?

Man kann eigentlich keine ausschließen, jeder Art von Störung oder psychischen Barrieren kann man potenziell mit künstlerischen Mitteln begegnen. Das heißt, man kann nicht davon ausgehen, dass jemand, der eine Psychose hat, geeigneter ist als jemand mit einer Borderline-Störung oder Depression. Ich arbeite mit Patienten mit allen möglichen Diagnosen, die in der Psychiatrie und auch in der Psychosomatik vorkommen, und sehe, dass alle davon profitieren können.

Spielt die Wahl der kreativen Mittel eine Rolle für die jeweiligen Krankheitsbilder?

Davon können wir nicht ausgehen. Jedes Material hat bestimmte Eigenschaften. Ein Aquarellstift ist anders zu benutzen als flüssige Gouachefarbe oder Ton. Jeder sucht sich mehr oder weniger bewusst ein Material aus, das ihm gerade entspricht. Ob man Lust hat, sich Raum mit einem großen Blatt zu nehmen, und großzügig mit Pinsel und Farbe malen will oder ob man ein kleines Format braucht, hängt nicht unbedingt mit der Diagnose zusammen, sondern mit der aktuellen Bedürfnislage.

Aquarell einer 70-jährigen Patientin von Karin Dannecker.
Aquarell einer 70-jährigen Patientin von Karin Dannecker.

© Privat

Wie läuft so eine Kunsttherapiestunde in der Gruppe ab?

Wenn die Patienten in den Raum kommen, ist der Arbeitstisch gedeckt. Farben, Stifte und andere Materialien sind da, ausgehend von der Hypothese, dass sich jeder das nimmt, was er für sich brauchen kann. Kunsttherapeuten vertrauen sehr auf die Stimulationskraft der Materialien. Ich gebe kein Thema vor. Das Material selbst regt die Patienten an, zu experimentieren, ohne gleich ein Thema haben zu müssen.

Und wenn einem Patienten nichts einfällt, was er malen will?

Dann muss man ihn erst mal beruhigen und vorschlagen, sich Zeit zu lassen. Meistens führe ich dann vor, wie man ein Material benutzt, etwa mit dem Pinsel, mit der Pastellkreide oder dem Aquarell, und frage, ob er eine Lieblingsfarbe hat – und ab dann wollen viele selbst etwas ausprobieren. Zudem stellen wir auch Kunstpostkarten und Kunstkataloge zur Verfügung, um sich anregen zu lassen. Wenn die Teilnehmer merken, dass alles, was auf dem Papier entsteht, Wertschätzung erfährt, werden sie mutiger und zeigen sich beim Zeichnen und Malen expressiver.

Was ist der Unterschied zu verbalen Therapieformen wie Gesprächstherapie oder Psychoanalyse?

In der Kunsttherapie sprechen wir von einer Beziehung zu dritt. Natürlich gibt es auch die wichtige Patient-Therapeut-Beziehung, aber die zentrale Beziehung ist die zum künstlerischen Material und zum entstehenden Werk. Und das entlastet die Therapeut-Patient-Beziehung. Die Energien und die Aufmerksamkeit richten sich auf den künstlerischen Prozess – „das Dritte“ ist also wesentlich in der Wirkungsweise, gerade im Vergleich zur verbalen Therapie.

Wie wirksam kann Kunsttherapie sein?

Die Therapeutin unterstützt und ermutigt den Patienten, seine persönlichen Themen mit den künstlerischen Materialien zum Ausdruck zu bringen. Sie hilft ihm dabei, sich selbst besser zu verstehen. Zum anderen entdecken die Menschen meistens etwas Neues über sich, was ihnen vorher nicht zugänglich war. Wenn sie merken, dass sie ein Bild entwickeln, Farben und Formen finden können, machen sie die Erfahrung: „Das kann ich! Das hätte ich nie von mir gedacht!“ Sie erfahren ihren Mut zur Kreativität. Das ist viel wertvoller als zu sagen, ich sehe in dem Bild ein Problem. Dadurch kann das Selbstwertgefühl neu entworfen werden.

Woraus ergibt sich die therapeutische Wirkung: aus dem Schaffensprozess oder dem daraus entstandenen Werk?

Den Satz „Der Weg ist das Ziel“ schätze ich gar nicht für meine Arbeit. Wenn jemand künstlerisch tätig ist, dann arbeitet er darauf hin, etwas zu schaffen, worauf er dann in irgendeiner Weise Bezug nehmen oder sogar stolz sein kann. Es geht also um ein Werk, das entstehen soll. Natürlich ist der Weg dorthin kompliziert. Es ist wichtig, sich zu trauen, auf ein leeres weißes Blatt den ersten Strich zu machen, das Bild langsam zu formen und zu gestalten, weil man dabei etwas erprobt, erfährt und gefordert wird. Deshalb kann man Prozess und Produkt nicht trennen. Das ist im Übrigen bei jedem Kunstwerk so.

Können Sie aus den Bildern auf bestimmte Krankheitsbilder schließen?

Es gibt bestimmte Arten von Darstellungen, die schon darauf verweisen, dass diese auch mit der Störung zusammenhängen können. Es gibt unter diesem Aspekt ein paar diagnostische Verfahren in der Kunsttherapie, um eine Persönlichkeit einzuschätzen. Wenn eine Diagnose unklar ist, kommen manchmal Ärzte auf mich zu und bitten mich um eine Einschätzung, ob ein Patient etwa depressiv ist oder eine Psychose hat. Anhand bestimmter kunsttherapeutischer Übungen kann man Erkenntnisse daraus ziehen.

Zum Beispiel?

Wenn ein Ganzkörper-Selbstporträt sehr verzerrt und fragmentiert aussieht, weist es eher auf eine Psychose als auf eine Depression hin. In der Strichführung kann man oft erkennen, ob jemand zögerlich und unsicher ist oder sich klar entschieden und selbstbewusst zeigt.

Laut IGeL-Monitor, der im Auftrag der Krankenkassen die Wirksamkeit bestimmter Behandlungen bewertet, hat Kunsttherapie den Status „unklar“, dort heißt es, sie würde zwar keinen Schaden anrichten ...

Na immerhin ...

... aber der Nutzen wird auch in Zweifel gezogen. Ist der Erfolg von kunsttherapeutischen Sitzungen überhaupt messbar?

Ich weiß, dass wir fundierte Nachweise für die Wirkung der Kunsttherapie erbringen müssen. Es liegen schon entsprechende empirische Studien für einzelne Bereiche vor: Psychiatrie, Psychosomatik und andere. Dennoch benötigen wir mehr Ergebnisse und Zahlen, die tragfähig sind. Mit der Charité haben wir eine Pilotstudie durchgeführt über Kunsttherapie bei stationär behandelten schizophrenen Patienten. Die Ergebnisse waren sehr gut: Die Patienten, die an der Kunsttherapie teilgenommen haben, haben besser abgeschnitten als andere aus der Kontrollgruppe.

Inwiefern?

Sie waren weniger oft depressiv und viel besser in der Lage zu mentalisieren, also sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Die Studie umfasste nur eine begrenzte Anzahl von 58 Patienten, sie soll mit einer viel größeren Teilnehmerzahl erweitert durchgeführt werden. Zusätzliche Herausforderung: Man kann das, was passiert, nicht mit Zahlen erforschen. Eine qualitative Auswertung ist viel komplizierter und komplexer, als wenn man nur Fragebögen auswertet, die man durch den Computer jagen kann. Dennoch müssen wir weitere empirische Studien durchführen, denn die Kassen fragen nicht nach ausführlichen qualitativen Ergebnissen, sie wollen Zahlen sehen. Wir sind auf dem Weg.

Im Gegensatz zu anderen Ländern ist „Kunsttherapeut“ hierzulande kein geschützter Beruf, auch die Ausbildung ist nicht einheitlich geregelt ...

Das ist ein Riesenproblem, weil es am Ende immer um den Schutz des Patienten geht. Es ist leicht zu sagen, Kunst wirkt und ich biete da mal was an. Leider gibt es noch viele private Ausbildungsangebote, die viel Geld kosten und etwa aus einem zweiwöchigen Kurs auf einer Insel bestehen.

Sie unterrichten Kunsttherapie in Weißensee. Wie kann man eine seriöse Ausbildung gewährleisten?

Zur Ausbildung gehört nicht nur umfangreiches theoretisches Wissen über die Grundlagen der Kunsttherapie, Kunst, Kunsttheorie sowie eigene künstlerische Erfahrungen, sondern auch eine Eigentherapie, Wissen über Psychotherapie, Supervision sowie grundlegende medizinische Kenntnisse – und eine lange Praxiserfahrung, die während des Studiums begleitet wird.

[Das Gespräch führte Heike Gläser. Diesen und weitere Artikel rund um psychiatrische und neurologische Themen finden Sie im aktuellen Gesundheitsratgeber „Tagesspiegel Psyche & Nerven“. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, Tel. 29021-520, www.tagesspiegel.de/shop sowie im Zeitschriftenhandel]

Wie ist die Situation bundesweit?

In Deutschland gibt es Ausbildungen an acht Universitäten und Fachhochschulen, mit Bachelor oder Master als Abschluss. Trotz inhaltlicher Unterschiede gibt es inzwischen viele Überschneidungen, aber auch immer noch unterschiedliche Schwerpunkte. Wir an der Kunsthochschule Weißensee erwarten zum Beispiel von den Studierenden, dass sie auch eine eigene tiefenpsychologische Therapie durchlaufen. Es geht darum, gemeinsame, grundlegende Standards für Ausbildung und Praxis zu finden, deren Einhaltung auch überwacht wird.

Wie kann man das erreichen?

Die Vertreter der Hochschulausbildungen haben ein Berufsbild entworfen, das hoffentlich bald als für alle verbindlich verabschiedet wird. Darin werden die Voraussetzungen beschrieben, die erfüllt sein müssen, um in unterschiedlichen Bereichen arbeiten zu können. Wir hoffen, mit diesem Entwurf auch die Übereinstimmung mit den anderen künstlerischen Therapien wie Musik-, Tanz- und Dramatherapie zu finden, um zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen, damit die Berufsbezeichnung geschützt wird.

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