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Nicht nur Fassade. Nicht nur Fassade. Wolfgang Nitsch bewahrt in seinem Haus in Rudow mehrere 100 Fotos mit Wandbildern auf.

© Kai-Uwe Heinrich

Fassadenmalerei in Berlin: Dokumentar der verschwindenden Stadt

Seit mehr als 40 Jahren fotografiert Wolfgang Nitsch Wandbilder. Ein unergründlicher Schatz: Denn viele gibt es nicht mehr.

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Ein Bremer Künstler war der Auslöser, PKF Krueger mit Namen. Im Jahr 1976 schmückte er die fensterlose Seitenwand eines vierstöckigen Gebäudes im Ostertorviertel der Hansestadt mit einem haushohen Gemälde. Er taufte es „Blick aus dem Fenster“, unter den Einheimischen ist es aber eher als „Oma-und-Opa-Bild“ bekannt: Ein älteres Ehepaar blickt überlebensgroß aus einem weit geöffneten Fenster auf das Gewusel unter ihnen, eine idyllische Szene und zugleich ein stiller Protest gegen die damals auch in Bremen tobende Kahlschlagsanierung.

Es muss kurz nach der Fertigstellung des Gemäldes gewesen sein, dass der Berliner Schaufenstergestalter Wolfgang Nitsch, in seiner Freizeit leidenschaftlicher Fotograf, während eines Bremen-Trips an der dekorativen Hauswand vorbeikam, begeistert anhielt und seine Kamera auf Oma und Opa richtete. Es wurde der Beginn einer wundervollen Leidenschaft für die nächsten Jahrzehnte. Rund 600 Fotos von mehr als 200 Wandbildern vornehmlich in Berlin hat er seither gemacht, teilweise auch in Innenräumen, dazu kamen Graffitibilder und -schriften und sogar bemalte Autos. Manche der Bilder sind längst wieder verloren gegangen, wurden Opfer der wachsenden Stadt, deren Brachen mehr und mehr unter Neubauten verschwanden und damit eben auch die zuvor offenen Brandmauern mit ihren gemalten Illusionen. So geschah es etwa dem ehemals besetzten und zum alternativen Kunst- und Kulturzentrum Kuckuck ernannten Haus Anhalter Straße 7 in Kreuzberg, an dessen Brandmauer kleine schwarze Anarchisten eine Bombenküche zu betreiben schienen – ein selbstironisches Spiel mit den Vorurteilen, die über die Hausbesetzerszene durch die Stadt spukten.

Nach und nach hatte sich der heute 78-jährige Nitsch geradezu zu einem Experten in Sachen Berliner Fassadenmalerei entwickelt. Neue Fotomotive fand er, indem er mit bereiter Kamera durch die Stadt fuhr, auch ein befreundeter Taxifahrer hielt für ihn die Augen offen, und auch aus den Kreisen der Künstler selbst erhielt er zahlreiche Tipps über neue Projekte. Bald veranstaltete er Ausstellungen und Lichtbildvorträge in Berlin und anderswo, lud zu Stadtrundfahrten – und arbeitete sogar hin und wieder selbst an Wandbildern mit.

Deren Entstehung war gelegentlich von Problemen begleitet, über die man sich heute nur noch wundern kann. So bei einer bemalten Giebelwand in der Neuköllner Richardstraße 99 im Jahr 1981. Die heute nicht mehr bestehende Künstlergruppe Ratgeb hatte den Auftrag erhalten, spielte mit ihrer Bildidee auf die Besiedlung von Böhmisch-Rixdorf durch die Hussiten im 18. Jahrhundert an, zeigte aber auch einen jungen Mann, der sich offensichtlich bemüht, auf die große Bühne der Weltgeschichte zu klettern und auf seiner Jacke ein von einem Kreis umrahmtes A zeigte, das zuerst bei der niederländischen Kraaker-Bewegung, dann auch unter Berliner Hausbesetzern populäre Symbol. Den damaligen Baustadtrat störte die politische Anspielung, drohte damit, Teile des Honorars zurückzuhalten, aber der Streit verlief dann doch im Sande, bevor es zum Rechtsstreit kam. Das Anarchie-A blieb, und sogar ein kleines Anti-Atom-Zeichen hatten die Ratgeb-Leute in das 500 Quadratmeter große Gemälde einschmuggeln können. In der Ausstellung 1983 im Rathaus Neukölln, die Wolfgang Nitsch aus seinen Fotos zusammenstellte, bekam das Hussitenbild von ihm einen besonderen Platz – so viel Solidarität mit den Künstlern musste schon sein.

Ein Lieblingsbild? Nitsch muss nicht lange nachdenken: die Wandmalerei von Gert Neuhaus im Hinterhof des Gebäudes Spandauer Damm 111-113, im Jahr 1982 entstanden, ein illusionistischer Schmuck mit viel scheinbarem Stuck, prächtigen Säulen, Balkonen, Rundbögen, hinter denen idyllische Landschaften zu liegen schienen. Von Neuhaus, erzählt Nitsch, stamme auch der bekannte „Reißverschluss“ an einer rohen Giebelwand in der Zillestraße 100 von 1978, genaugenommen das Ergebnis eines Finanzlochs: Um die gesamte Wand zu verputzen, habe das Geld gefehlt, so sei der Künstler eben auf die Idee gekommen, nur auf dem scheinbar durch einen riesigen Reißverschluss freigelegten (und verputzten) Teil der Wand eine klassizistische Fassade zu zaubern.

Und noch an einem zweiten Berliner Wandbild hat Nitsch besonderes Gefallen gefunden, das allerdings derzeit hinter einem Neubau verschwindet: Der „Weltbaum“ von Ben Wagin an der Brandmauer von Sigmunds Hof, gegenüber dem S-Bahnhof Tiergarten, 1975 entstanden und damit eines der ersten „Murals“ in Berlin. Wie viele von dessen Künstlerkollegen hat Nitsch auch Wagin kennengelernt, so gut, dass dieser von seinem Gesicht sogar eine Gipsmaske abnahm und ihm einen kleinen Gingko-Baum schenkte. Mittlerweile hat er die Höhe von Nitschs Haus in Rudow erreicht. Besonders im Herbst, wenn sich die Blätter goldgelb färben, ist ein eine kleine lokale Attraktion – kein Ersatz für ein bald verschwundenes Lieblingsgemälde, aber doch eine weiter grünende Erinnerung.

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