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Die Bornholmer Hütte in der Bornholmer Straße gibt es seit 1904.

© Constanze Nauhaus

Gemeinsam einsam in Berlin: Ein Stammtisch lässt sich nicht online nachahmen

Kein Pfeffi, keine Geselligkeits-Kippe, kein feuchtfröhlicher Haufen: Freunde treffen geht auch in Corona-Zeiten. Aber den Stammtisch kann das nicht ersetzen.

Eigentlich rauche ich nicht. Aber pünktlich alle zwei Wochen um die Mittagszeit kribbelt plötzlich Vorfreude zwischen Zeige- und Mittelfinger empor, dann gucke ich in den Kalender: Es ist Donnerstag, abends ist Hütten-Stammtisch. Zeit für meine drei Geselligkeits-Kippchen.

Seit gefühlt immer trifft sich unser Freundeskreis zwei Mal monatlich im Kneipen-Urgestein Bornholmer Hütte im Prenzlauer Berg. Nirgendwo sonst haben sich neuer und alter Kiez so bierselig-harmonisch wiedervereinigt wie an Matthias Gehrhus’ Tresen, dessen Vater die Kneipe an der Bornholmer Straße 1954 übernommen hat.

Den Laden selbst gibt es seit 1904. Das letzte Mal ist 1973 gestrichen worden, hellbeige. Das Dunkle an den Wänden: „Alles angeraucht“, knarzt Matthias stolz. In seiner Kneipe dürfen verhipsterte Neuberliner ebenso versumpfen wie seit Jahrzehnten mit ihrem Glas verwachsene Fossilien. Unterstützt von seiner Eva führt er das Lokal mit einer unnachahmlich schnodderigen Liebe. Zu seinen Gästen, zum Laden, zum Schnaps.

Der Shutdown im Frühjahr traf die Kneipe, wie alle Kneipen, plötzlich. Der zweite hart. Aber Berlin hält zusammen in guten wie in schlechten Zeiten. Stammgäste verwandelten ihre Verbundenheit in Bares. Seit Mai sind fast 5500 Euro an Spenden für die Hütte bei kneipenretter.org zusammengekommen, die direkt an den Vermieter gehen, um zumindest einen Teil der Miete decken zu können.

Von den Novemberhilfen sei bis jetzt nichts angekommen, ist im Aushang an den geschlossenen Rollläden zu lesen, den Eva jede Woche erneuert. „Lockdown Woche 6: Wir sind gespannt (und noch immer hoffnungsvoll), dass irgendwann von irgendeiner Stelle finanzielle Hilfe zur Verfügung gestellt werden wird“, steht dort.

Und auch: „DANKE! Für Euren Zuspruch, Euren Rückhalt, Eure Sorgen und Eure Spenden.“ Die spürbare Verankerung im Kiez rührt Eva in jedem Gespräch zu Tränen. „Wir vermissen euch!“, ruft sie ins Telefon.

[Dieser Text stammt aus unserer Leute-Beilage für die Berliner Ostbezirke, bestückt von den Autor:innen unserer Bezirks-Newsletter. Diese können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Was soll ich sagen? Wir vermissen euch auch! Mir fehlt der heimelige Anblick unseres riesigen Aschenbechers mit dem geschwungenen „Stammtisch“-Schildchen. Mir fehlt Matthias’ zu seinem Haar passende Stoppeligkeit. Mir fehlt Evas liebevolle Fürsorge, ihr bezauberndes Lächeln, mit dem sie unser von Pfeffi beseeltes Gefühl bestätigt, ihre allerallerliebsten Lieblingsgäste zu sein.

Und natürlich fehlen mir meine Freunde. Der Shutdown bringt unser Zeit- und Lebergefüge durcheinander. Keine Hütte? Das gab es noch nie. Donnerstags sind wir immer da. Nie alle, aber meist viele. Keine Laune des Lebens konnte die Schnapslaune je erschüttern, keine begonnenen oder beendeten Beziehungen, keine Kinder, Jobs, Affären, Umzüge. Ein Freund sagte mal: „Selbst wenn ich Freitagfrüh das Bewerbungsgespräch meines Lebens hätte – ich würde abends noch hier mit euch drauf anstoßen!“

Der "Stammtisch"-Aschenbecher, mit dem Stammgäste geadelt werden.
Der "Stammtisch"-Aschenbecher, mit dem Stammgäste geadelt werden.

© privat

Anfangs versuchten wir es über Zoom. Das Leben online nachahmen – auch so eine Corona-Nebenwirkung, mit der ich mich nicht anfreunden kann. Videokonferenzen decken meinen Bedarf an Bildschirmaktivität mehr als genug. Klar kann ich mir vor lauter kleinen Fensterchen einen Pfeffi nach dem anderen reinstellen. Aber das wirklich Schöne am Stammtisch – uns angetütert in den Armen liegen, von uns selbst und unserer Freundschaft gerührt –, kann kein Video ersetzen. Gemeinsam einsam.

Zwar treffen wir uns auch jetzt, coronakonform eben, aber mir fehlt der große feuchtfröhliche Haufen. Und mir fehlen meine drei Kippen. Neulich wäre wieder Hüttendonnerstag gewesen. Aber er verging einfach. Ohne vorfreudiges Kribbeln zwischen den Fingern. Der Shutdown ist in meinem Organismus angekommen.

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