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Dieses Foto von einem Zeitungskiosk an der zerstörten Gedächtniskirche entstand um 1948.

© akg-images

Raser, Reger, Retter: Die turbulenten 50er – für Berlin und den Tagesspiegel

450.000 Exemplare verkaufte der Tagesspiegel nach seiner Gründung. Doch durch die Weltlage geriet er ins Taumeln. In Berlin trifft eben das Globale aufs Lokale.

Zugegeben, der Blick auf die Titelseite des Tagesspiegels vom 27. September 1945 muss heutige Zeitungsleser irritieren: Worte, nichts als Worte, das reinste Augenpulver und kein Foto, an dem der Sehnerv sich erholen könnte. Dazu ein unentschiedenes Layout mit einer über die ganze Seite gehenden Titelzeile, während der dazugehörende Text davon nur eine Hälfte ausmacht.

Und interessierte damalige Leser wirklich noch, wie Hitler sich das Unternehmen „Seelöwe“ zur Invasion der britischen Insel vorstellte? Sollte es in diesem neuen Blatt tatsächlich um „Anfang und Zukunft“ gehen, wie der Leitartikel von Chefredakteur Erik Reger auf der dritten Seite suggerierte, oder eher um die Vergangenheit?

Eine Unentschiedenheit, ja Unsicherheit, nicht untypisch für die ersten Monate des Tagesspiegels, der noch suchte, seine Rolle trotz aller hochdemokratischen Gesinnung noch nicht gefunden hatte, ja nicht mal sein stolzes, auf Vergil zurückgehendes Motto „Rerum cognoscere causas – den Dingen auf den Grund gehen“. Erst ab dem Jahreswechsel drei Monate später schmückte es die Titelseite.

Eine verständliche Ambivalenz, schon angesichts der zunehmenden Brüchigkeit des politischen Umfelds im bald ausbrechenden Kalten Krieg, mit der Frontstadt Berlin. Ohne die Rosinenbomber, die auch Zeitungspapier nach West-Berlin transportierten und auf dem Rückflug Druckmatern für die Fernausgabe mitnahmen, hätte man den Laden bald wieder dichtmachen können. Dazu waren aus Ost-Berlin berichtende Reporter des Blattes in steter Gefahr, gekidnappt zu werden. Einer kehrte erst nach sieben Jahren gebrochen aus Sibirien zurück.

Völlig sicher waren sich die Gründerväter des Tagesspiegels – ja, es waren alles Väter – immerhin darin, dass sie eine Zeitung aus Berlin, nicht nur für Berlin machen wollten. Doch so karg und provisorisch die Startbedingungen im Tempelhofer Ullsteinhaus auch waren, legte der Tagesspiegel doch binnen weniger Jahre einen furiosen Erfolg hin: im Jahr nach der Gründung bereits 450.000 Exemplare in ganz Deutschland, gelesen in beiden, noch nicht völlig getrennten Teilen Berlins. Aber der Kalte Krieg wurde eisiger, brachte nach der Blockade die Währungsreform, mit der Folge eines weiteren Auseinanderdriftens von West und Ost. Anfang der fünfziger Jahre lag die Auflage bei gerade mal noch 79.000 Exemplaren.

Die Rettung nahte aus Schwaben

Rettung nahte aus Schwaben: Franz Karl Maier, bis 1949 Lizenzträger und Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“, der nach seinem Ausscheiden dort ein neues Feld als Verleger suchte und im Tagesspiegel fand. Ein lupenreiner Demokrat und beinharter Liberaler, dazu sparsam über alle Maßen, wie man das den Schwaben eben nachsagt, aber doch mit einem gut funktionierenden Instinkt begabt, wenn es um den richtigen Zeitpunkt für höhere Investitionen ging.

In Ost-Berlin fanden die staatlichen Organe den Tagesspiegel nicht so toll (1948 am Potsdamer Platz).
In Ost-Berlin fanden die staatlichen Organe den Tagesspiegel nicht so toll (1948 am Potsdamer Platz).

© Tagesspiegel-Archiv

Und der war Mitte der fünfziger Jahre ganz sicher erreicht: Auch wenn sich das geschrumpfte Blatt zu konsolidieren begann, war das überlieferte Provisorium von Verlag, Redaktion und Druckerei doch auf Dauer unhaltbar. Noch immer hauste der Tagesspiegel im dritten Stock des Ullsteinhauses, und dort wurde das Blatt auch gedruckt, kostspielig unter fremder Ägide, für den auf Selbständigkeit bedachten Verleger ein Unding, wie er bekannte: „Eine Tageszeitung ohne eigene Druckerei sei, so sagt man, ein totgeborenes Kind. Konsolidieren hieß daher auch, von der teuren Herstellung in einem fremden Betrieb wegzukommen und eine eigene Technik aufzubauen.“

Eine geeignete Immobilie fand Maier in der Potsdamer Straße 87 in Tiergarten, in einem 1912 vom Verband der Deutschen Elektroindustrie errichteten Gebäude mit viel freier Fläche drum herum. Harry Piel, vor wie hinter der Kamera ein Star des frühen deutschen Abenteuerfilms, hatte darin einst sein Produktionsbüro, auch stand dort noch das Atelierhaus des Hofmalers Anton von Werner – eine neue Adresse mit viel Geschichte also, dazu nahe am alten, vielleicht auch wieder neuen Zentrum der Stadt, wie man hoffte.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über Berlins wichtigste Nachrichten und größte Aufreger. Kostenlos und kompakt: checkpoint.tagesspiegel.de]

Und die Partnerschaft mit der Zeitung „Der Abend“ versprach die Investition in moderaten Maßen zu halten. Gemeinsam gründete man die Druckerei Mercator, deren Name in den erst heute so genannten Mercator-Höfen noch präsent ist. Beide Zeitungen wurden zu unterschiedlichen Tageszeiten hergestellt, kamen sich also nicht in die Quere, eine Konstruktion, die sich lange Zeit bewährte.

Der Umzug zur Potsdamer Straße

Am 30. März 1954 wurden die beiden Rotationsmaschinen in Gang gesetzt, Bürgermeister Walther Schreiber drückte den Knopf. „Ein Kilometer Zeitung pro Minute“, ließ das Blatt seine Leser stolz wissen. Allerdings entstanden dessen Berichte vorerst weiter im Ullsteinhaus, mussten jeden Abend im VW Käfer von Tempelhof nach Tiergarten gebracht werden, wo sie gesetzt und gedruckt wurden.

Erst ein dreiviertel Jahr später folgte die Redaktion, unter höchst unbequemen Umständen, wie in der Ausgabe vom 19. Dezember 1954 dem „Am Rande bemerkt“, der täglichen Glosse des Lokalchefs Günter Matthes, zu entnehmen war: „Selbst zur kürzesten Randbemerkung braucht man eine Unterlage. Der Geist soll zwar die Materie beherrschen, aber entbehren kann er sie wohl nicht. Gemeint sind unsere Redaktionsschreibtische. Während diese Zeilen freihändig geschrieben werden, bummelt unser Mobiliar durch Berlin – im Möbelwagen.“

Seit 1952 stand Matthes dem Lokalteil vor. Dass es diese Position überhaupt gab, war in den ersten Jahren des Blattes keineswegs selbstverständlich gewesen, vertrat Chefredakteur Erik Reger doch das Konzept einer kunterbunten statt wohlsortierten Mischung. Der Leser möge doch bitte alles lesen, meinte er, angesichts der anfangs superdünnen Ausgaben ein zumutbarer Anspruch.

[Ab dem 27. September, an dem vor 75 Jahren die erste Tagesspiegel-Ausgabe erschien, twittern wir Themen und Texte von 1945 aus dem Tagesspiegel-Archiv, jeweils "Heute vor 75 Jahren" #OTD. Zu finden hier: twitter.com/Erik_Reger]

Erst unter Franz Karl Maier wurde eine Seite mit rein Berliner Themen eingeführt, eine unter Chefredakteur Karl Silex, 1954 Nachfolger des überraschend verstorbenen Reger, fortgeschriebene Aufwertung, die für die Lokalberichterstattung ganz neue Möglichkeiten auch der Leser-Blatt-Bindung, ja selbst der Mobilisierung des zahlenden Publikums brachte.

Erfolgreiche Kampagne für Tempo 60

„Auch ich kann über 60 fahren“ – als Autofahrer, zumal in einem breitspurig daherkommenden SUV, hätte man mit diesem Aufkleber am Heck im Berliner Straßenverkehr heute einen schweren Stand. Und eine Zeitung, die solche Bekenntnisse im Rahmen einer von ihr angezettelten Kampagne massenhaft unter die Leute zu bringen versuchte, müsste sich gegen einen verheerenden Shitstorm wappnen. Nicht so der Tagesspiegel 1955, der mit seinem Eintreten für 60 km/h im Stadtverkehr einen furiosen Erfolg bei der Leserschaft erzielte: Binnen weniger Tage waren 32.000 der 60-km-Plaketten weg.

SUV? Shitstorm? Waren noch unbekannt, eine Tempobegrenzung in der Innenstadt oder sonst irgendwo ebenfalls. Am 1. Januar 1953 waren die diesbezüglichen Vorschriften der Nationalsozialisten ersatzlos gestrichen worden, und seitdem schnellten die Unfallzahlen nach oben, auf besonders traurige Höhen in Berlin. Der Gesetzgeber nahm das ungerührt hin, und so ergriff eben der Tagesspiegel die Initiative, nach dem Motto „60 km sind genug“. Es wurden schließlich 50 km/h – aber erst am 1. September 1957.

Die Blockade Berlins schneidet den Tagesspiegel 1948 von seinem Umland ab.
Die Blockade Berlins schneidet den Tagesspiegel 1948 von seinem Umland ab.

© Tagesspiegel-Archiv

Eine zeittypische Episode aus der Geschichte dieses Blattes, charakteristisch für die fünfziger Jahre, eine Dekade des Umbruchs auf den Berliner Straßen wie in der hiesigen Politik und besonders auch im davon beeinflussten Pressewesen. Denn der Umbruch, der sich damals, Mitte der fünfziger Jahre, im Tagesspiegel vollzog, betraf eben nicht allein die baulichen und organisatorischen Umstände, unter denen er täglich entstand.

Wolf Jobst Siedler machte das Feuilleton zum Forum Berlins

Eine deutschland- oder zumindest bundesweite Verbreitung war angesichts der politischen Entwicklungen bis auf weiteres illusorisch, damit musste das anfangs weit über die Stadtgrenzen hinaus wirkende Blatt sich abfinden. Eine reine Regionalzeitung wollte der Tagesspiegel aber auch nicht sein, vielmehr eine mit sehr viel weiter gefasstem Anspruch und überregionaler Ausstrahlung.

So erfolgte der von Silex vorangetriebene, von Maier unterstützte und von der Redaktion umgesetzte Strukturwandel in zwei Richtungen, fand die Stärkung des Berlin-Teils sein Gegengewicht in der anfangs noch meist mit zwei Kommentaren gefüllten Meinungsspalte auf der rechten Seite der Titelseite, in der „Dritten Seite“ mit ihren Korrespondentenberichten und einem nunmehr modernen fünfspaltigen Layout. Zuvor war altertümelnd in vier Spalten gedruckt worden.

"Tagesspiegel"-Schriftzug am S-Bahn-Eingang Potsdamer Platz 1948.
"Tagesspiegel"-Schriftzug am S-Bahn-Eingang Potsdamer Platz 1948.

© Tagesspiegel-Archiv

Auch leistete sich der Tagesspiegel nun ein Feuilleton, dessen Leitung 1955 der jungen Wolf Jobst Siedler übernahm und das sich hinter dem der überregionalen Blätter ganz und gar nicht verstecken musste – ein intellektuelles Forum Berlins mit besonderem Blick auf das Baugeschehen in der zertrümmerten, allmählich neue Formen annehmenden Stadt.

Frage im Rathaus: „Was sagt Bölke dazu?"

Ohnehin ließen sich in West-Berlin lokale, überregionale, ja globale Ebene kaum trennen, war doch die Stadt von der Weltlage besonders betroffen, wie bei der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 oder bei der Berlin-Krise 1958 deutlich wurde. Außen- und Sicherheitspolitik standen stets im Fokus der Berichterstattung, mit Politik-Chef Joachim Bölke als wachsamem Hüter des Berlin-Status. Die Frage „Was sagt Bölke dazu?“ soll zum ständigen Repertoire der morgendlichen Lagebesprechungen im Rathaus Schöneberg gehört haben.

Noch war die Grenze zwischen den beiden Teilstädten durchlässig, während der Eiserne Vorhang zwischen Bundesrepublik und DDR längst gefallen war. Berlin war ein Schlupfloch geblieben, durch das 1958, dem Jahr des Berlin-Ultimatums durch Sowjetchef Nikita Chruschtschow, mehr als 200.000 DDR-Bürger ihrem Regime entkamen. Noch im ersten Halbjahr 1961 waren es über 100.000 Flüchtlinge, dann, am 13. August, wurde die Grenze zugemauert. Eine neue Phase der Geschichte Berlins und mit ihr der des Tagesspiegels hatte begonnen.

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