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Stadtarchitektur: Experten regen neue Bauausstellung in Berlin an

Berlin und sein Umland haben große stadtplanerische Probleme. Möglicherweise lohnt es sich jetzt, auf ein bewährtes Konzept zurückzugreifen: Eine neue Bauausstellung könnte die passende Lösung liefern.

Im Jubeljahr der 750-Jahr-Feier Berlins, 1987, ging die letzte Internationale Bauausstellung (IBA) zu Ende. Ihre Folgen waren gewaltig: Die IBA lieferte das Leitbild für den Städtebau nach dem Fall der Mauer: die „kritische Rekonstruktion“ der Stadt, die Orientierung auf die überkommene Stadt einschließlich ihres Grundrisses. Heute aber ist die IBA 1984/87 weithin vergessen, ebenso wie die Umstände, die zu dieser IBA geführt haben. Und kaum mehr einer weiß, dass Berlin die Hauptstadt der Bauausstellungen ist.

Den Auftakt bildete die Allgemeine Städtebauausstellung in Berlin 1910. Ihr unmittelbarer Anlass war der städtebauliche Ideenwettbewerb Groß-Berlin von 1908–1910. Erstmals wurden städtebauliche Visionen nicht mehr nur für einzelne Gebiete, sondern für die gesamte explodierende Großstadtregion entwickelt. Diese – das war die Botschaft – sollte durch drei städtebauliche Elemente geordnet werden: durch den Ausbau des Fern- und Schnellbahnsystems, durch eine Verbesserung des Systems der Ausfallstraßen und durch neue Grünkeile zwischen diesen Ausfallstraßen.

Die Wirkungen der Städtebauausstellung von 1910 waren widersprüchlich. Die vorgestellten Projekte wurden kaum umgesetzt, oder – wie beim Hauptbahnhof und dem Nord-Süd-Eisenbahntunnel – erst 100 Jahre später. Aber die stadtregionale Sichtweise und die Orientierung auf ein geordnetes Wachstum entlang der Linien des öffentlichen Nahverkehrs prägten die weitere Entwicklung, genauso wie die scharfe Kritik an der Mietskasernenstadt.

Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich der Berliner Städtebau radikal. Nicht mehr das private Kapital prägte die Entwicklung, sondern der Staat bzw. die Stadt. Städtebau schrumpfte mehr und mehr zum Wohnungsbau. Und die große, kompakte, urbane, mischgenutzte Stadt wurde scharf kritisiert. Nun entstanden vor allem suburbane Alternativen zur Mietskasernenstadt – die berühmten Berliner Siedlungen der zwanziger Jahre. Als 1931 die Deutsche Bauausstellung auf dem Berliner Messegelände als Leistungsschau der Bauindustrie gezeigt wurde, fiel diese wegen der Folgen der Weltwirtschaftskrise bescheiden aus: Raumnot und Geldnot hatten die Bedürfnisse im Bauen und Wohnen verändert. Für eine starke Vision einer neuen, besseren Stadt gab es keine Kraft mehr.

1957 wurde die dritte Ausstellung eröffnet, die Interbau. Sie präsentierte auf dem von Ruinen und übriggebliebenen Gebäuden freigeräumten Areal des alten Hansaviertels die Vision einer modernen neuen Stadt, die keine Erinnerung an die Geschichte mehr hat, die auch keine urbanen, mischgenutzten Stadtstraßen mehr kennt, wohl aber schöne Solitärbauten, geplant von berühmten Architekten.

Das Leitbild eines aufgelockerten, funktional getrennten, autogerechten neuen Berlin wurde in den siebziger Jahren, während des Jahrzehnts großer gesellschaftlicher Proteste, radikal infrage gestellt. Ein Ergebnis dieses Umdenkens war die Einrichtung der Internationalen Bauausstellung 1984/87, die aus zwei Teilen bestand: der Altbau-IBA, die die behutsame Stadterneuerung erfand, und der Neubau-IBA, die die Reparatur der fragmentierten Stadt in kritischer Orientierung am historischen Stadtgrundriss in die Wege leitete. Diese IBA machte die Innenstadt als Wohnort wieder attraktiv.

Hintergrund all dieser Ausstellungen war die Kritik an der überkommenen Stadt, ihr Ziel war immer ein neues, besseres Berlin. Dennoch waren diese Bauausstellungen extrem unterschiedlich, ja oft gegensätzlich: Sie widersprachen sich und stellen im Rückblick eher ein schrilles Konzert dar – Ausdruck der unterschiedlichen Vorstellungen einer „besseren“ Stadt, die im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden.

Ist heute, 23 Jahre später, die Zeit reif für eine neue Bauausstellung? Gibt es wieder etwas zu zeigen, die Vision einer Stadt von morgen, eine Botschaft, die innovativ, plausibel, realistisch und nachhaltig ist?

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat im letzten Jahr Überlegungen für eine IBA auf dem Tempelhofer Feld vorgelegt. Dies ist ein offizielles und daher gewichtiges Konzept. Für Tempelhof spricht, dass hier das große Thema der neuen Nutzung der für Berlin typischen Stadtbrachen aufgerufen wird, in klimagerechter Weise. Ein weiteres IBA-Konzept wurde von Franziska Eichstädt-Bohlig, der grünen Spitzenpolitikerin, präsentiert. Es heißt: „Soziale Stadt im Klimawandel – eine IBA für Neukölln?“ Für Neukölln spricht die immense Bedeutung, die die Verbesserung der Lebensverhältnisse in den ehemaligen Arbeiterquartieren für die Zukunft der Stadt hat.

Wir möchten diese Konzepte nicht infrage stellen, denken aber, dass die Grundsatzfrage, ob wir eine IBA brauchen und wenn ja, welche IBA, bislang in der Öffentlichkeit nicht ausreichend diskutiert worden ist. Für eine solche Diskussion braucht es Alternativen. Daher wollen wir einen weiteren Vorschlag präsentieren, der eine andere Dimension aufruft. Wir, das sind nicht nur die Autoren dieser Zeilen, sondern auch die Initiative junger Fachleute Think Berl!n. Wir denken, dass erstmals seit 1910 wieder ein Thema von regionaler Dimension auf der Tagesordnung steht, ein Thema, das die vielfachen Spaltungen zwischen Innenstadt und Außenstadt, vielleicht sogar zwischen Berlin und Brandenburg zumindest entspannt. Berlin möchte gerne Metropolregion sein, denkt aber nicht im Format einer Metropolregion. Berlin möchte gerne sozial und ökologisch nachhaltig sein, denkt aber nur in kleinen Einheiten. Wir fragen daher: Welche Herausforderungen beziehen sich nicht nur auf ein Quartier, auf einen Teil der Stadt? Unsere Antwort heißt: die Wiederbelebung von Hauptstraßen samt Hinterland – oder neudeutsch: radikal radial!

Als Berlin noch eine kleine Stadt war, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, war sie mit anderen Städten durch große Überlandstraßen verbunden, die an den Stadttoren ihren Ausgang nahmen. Diese Straßen wurden während des stürmischen Berliner Wachstums insbesondere in den 1890er bis 1910er Jahren zu innerstädtischen Hauptstraßen, die auch Ausfallstraßen oder Radialstraßen genannt wurden. Dies sind heute etwa die Frankfurter Allee, die Landsberger Allee, die Greifswalder Straße, die Prenzlauer Allee, die Schönhauser Allee, die Müllerstraße, der Kaiserdamm und die Bundesstraße 1 zwischen Berlin und Potsdam, der Tempelhofer Damm. Zu den großen Ausfallstraßen kamen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur mehr wenige neue Hauptstraßenzüge hinzu: etwa die Bundesallee, die Karl-Marx-Straße, die Brunnenstraße, der Kurfürstendamm.

Was diese Hauptstraßen auszeichnet, ist allgemein bekannt: Hier konzentrieren sich Geschäfte und Kneipen, aber auch kulturelle und öffentliche Einrichtungen, hier finden sich die bedeutendsten Bauwerke der Stadtquartiere, etwa Rathäuser, Kaufhäuser, Postämter und Bankgebäude, und an einigen Stellen verdichten sich die städtischen Nutzungen zu regelrechten Stadtteilzentren. Erinnert sei nur an die Müllerstraße und die Karl-Marx-Straße, aber auch an die Schloßstraße in Steglitz. In den umliegenden Quartieren wohnen sehr viele Berliner. Die Hauptstraßen sind oft der zentrale Salon der umliegenden Kieze, Ausdruck der dortigen sozialen Milieus, sie wirken tief in die Kieze hinein. Was aber besonders wichtig ist: Die Radialen durchlaufen die ganze Stadt: Von der stark verdichteten Innenstadt bis zu den locker bebauten Vororten. Sie durchziehen ganz unterschiedliche Welten und binden diese zugleich zusammen, sie sind das urbane Rückgrat der Stadt, ihre Lebensadern, sie gliedern den riesigen Berliner Raum in den Köpfen der Menschen. Diese Hauptstraßen reichen sogar weit nach Brandenburg hinein. Ohne Hauptstraßen keine Großstadt, ohne Hauptstraßen kein Groß-Berlin, keine Metropolregion.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verloren die Radialen ihr Gewicht. Sie wurden einseitig für den Autoverkehr fit gemacht, das Leben entlang dieser Straßen wurde immer unattraktiver, Lärm und Abgase vertrieben viele Bewohner und urbane Einrichtungen, Einkaufszentren machten den kleinen Geschäften den Garaus. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die früher so begehrten Hauptstraßenlagen heute nicht mehr so attraktiv sind. Noch geht mancherorts der autogerechte Ausbau der Straßen weiter, und viele zweifeln, ob diese je wieder zu Lebensräumen werden können. Wir denken, dass sich mit dem klima- und energiepolitisch unausweichlichen Umbau unseres Großstadtverkehrs die Chance eröffnen wird, die geschundenen Hauptstraßen wieder zu beleben, sie wieder zu erstklassigen urbanen Räumen zu machen.

Die Wiederbelebung einer oder mehrerer Hauptstraßen – vielleicht in einer Art Wettbewerb untereinander: Das wäre in der Tat eine mögliche Aufgabe für eine Internationale Bauausstellung. An einer solchen Bauausstellung wäre einiges neu: Sie wäre nicht mehr auf ein Quartier oder nur auf die Innenstadt beschränkt, ihr Thema wäre die ganze Stadtregion. Eine solche Ausstellung würde auch nicht mehr nur einen Träger haben, sondern viele, mehrere Bezirke, unterschiedliche Initiativen, die sich entlang der Hauptstraßen bündeln. Es bräuchte aber auch eine Institution, die diese Aktivitäten bündelt, wie es in den achtziger Jahren mit großem Erfolg die IBA geleistet hat. Eine solche Ausstellung könnte auch über die Grenzen Berlins hinausführen. Ihr Ziel wäre die Reurbanisierung der Hauptstraßen als attraktive städtische Lebensräume, die keineswegs Fußgängerzonen sind, sondern unterschiedlichen Verkehren dienen, dem öffentlichen Verkehr, dem Fahrrad- und Autoverkehr, aber auch und in ganz neuem Umfang dem Aufenthalt der Fußgänger. Hauptgegenstand wäre also eine Umgestaltung und Qualifizierung des öffentlichen Raums.

Natürlich sind auch die Gebäude wichtig. Vor allem geht es um die Umnutzung von Gebäuden, die nicht mehr in Gebrauch sind, etwa ehemalige Postämter und Kaufhäuser, aber auch um ergänzenden Neubau. Zu überlegen wäre, wie wichtige öffentliche Nutzungen, etwa Bibliotheken, Volkshochschulen, Familienzentren wieder stärker an den bereits hervorragend erschlossenen Hauptstraßen zu konzentrieren sind. Die Hauptstraßen sind unverzichtbare Orte der Nahversorgung, sie spielen für das soziale und kulturelle Leben der Berliner Stadtteile eine entscheidende Rolle. Sie sind ein Schlüsselelement der nachhaltigen „Stadt der kurzen Wege“. Die Hauptstraßen mit ihren markanten Gebäuden bieten bedeutende Identifikationspunkte innerhalb der Stadtregion. Und sie sind eine künftige Adresse für den wachsenden Stadttourismus.

Dass ein solches Thema von größtem internationalen Interesse ist, zeigt ein Blick über unsere Grenzen. Der klassische Fall einer Großstadtregion, die mental durch kraftvolle Radialen geprägt wird, ist die Mutter aller Großstädte, die ewige Stadt Rom, die noch heute durch die großen altrömischen Straßen gegliedert wird: Erinnert sei nur an die Via Appia, die Via Aurelia, die Via Flaminia, die Via Salaria usw. Jede Großstadt hat solche Ausfallstraßen. Beachtenswert ist gegenwärtig das Beispiel der Region London. Dort hat der Bürgermeister, Boris Johnson, die Initiative ergriffen, die High Streets aufzuwerten. Zudem wird angedacht, Investitionen für öffentliche Räume und neue öffentliche Gebäude an den Hauptstraßen zu konzentrieren, um möglichst viele Menschen davon profitieren zu lassen und um diese wichtigen städtebaulichen Kraftlinien weiter zu stärken. Eine ausgezeichnete Idee, wie wir meinen.

Die Bauausstellungen der Nachkriegszeit haben – durchaus verständlich – immer nur die Innenstadt thematisiert. Die Stärkung der Innenstadt ist auch in Zukunft eine Schlüsselaufgabe, aber sie kann nur gelingen, wenn die gesamte Stadtregion in den Blick genommen wird, wenn die Außenstadt nicht vergessen wird. Wir müssen daher heute fragen, wie wir das Thema Metropolregion, das Schlüsselthema der Zukunft, aufrufen können. Unser Vorschlag dafür ist: radikal radial!

Harald Bodenschatz ist Leiter des Fachbereichs Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin und arbeitet seit 1980 als Stadtplaner (Spezialgebiet: Erhaltung historischer Stadtkerne).

Hildebrand Machleidt arbeitet in Berlin als Architekt und Stadtplaner und hat seit 2008 an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover die Professur „Stadt- und Bauleitplanung“ inne.

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