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Sicherheitsleuchten und Überwachungskameras vor der Justizvollzugsanstalt Tegel.

© Paul Zinken/dpa/pa

Freiheit mit Restrisiko: Offener Vollzug für Sicherungsverwahrte stößt in Berlin auf Widerstand

In der JVA in Berlin-Tegel sollen Sicherungsverwahrte in den offenen Vollzug. Doch die Anwohner wollen keine Straftäter in ihrer Nachbarschaft.

Von Ronja Ringelstein

Berlin bekommt einen offenen Vollzug für Sicherungsverwahrte. Direkt gegenüber der JVA Tegel steht ein Gebäude, das früher den Bediensteten der Justizvollzugsanstalt als Wohnquartier diente, inzwischen steht es leer und ist sanierungsbedürftig. Im kommenden Jahr soll es hergerichtet werden, damit zunächst drei der derzeit 48 in Sicherungsverwahrung lebenden Männer der JVA Tegel dort einziehen können.

Zehn Plätze werden dort entstehen. Einzelzimmer mit Gemeinschaftsbad und Küche. Ein Sicherheitsbeamter soll überwachen, wer wann das Haus verlässt und wiederkommt. Das Erdgeschoss soll vergittert werden.

Dennoch wächst der Widerstand. Anwohner der Seidelstraße in Tegel wollen verhindern, dass ehemalige Straftäter aus der JVA vor die Gefängnismauern ziehen. Inzwischen haben mehr als 3000 Menschen eine Petition unterzeichnet und ein entsprechender Antrag der CDU, die die Gegenwehr unterstützt, liegt in der Bezirksverordnetenversammlung für den 11. Dezember vor.

Berlin ist nicht das erste Bundesland und es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass es einen offenen Vollzug für Sicherungsverwahrte gibt. Aber deshalb wollen sich die Tegeler Anwohner damit noch lange nicht abfinden.

Marian Dix ist einer von ihnen. Der 32-Jährige gründete eine Facebook-Gruppe und startete die Petition. Er wohne 200 Meter entfernt, sagt er. Dix ist Vater eines zweijährigen Mädchens, das nächste Kind kommt im März. Dass verurteilte Sexualstraftäter in die Nachbarschaft ziehen, ohne dass Mauern sie abhalten, will er nicht akzeptieren.

Ein Mitarbeiter der Justiz in dem Zellentrakt vom Haus 3 in der JVA Tegel.
Ein Mitarbeiter der Justiz in dem Zellentrakt vom Haus 3 in der JVA Tegel.

© IMAGO

„Wir fordern, dass die Standortwahl neu überdacht wird“, sagt Marian Dix dem Tagesspiegel. Wenn es nach ihm geht, sollten die Sicherungsverwahrten lieber in „ländliche Gebiete“ ziehen, zumindest nicht in ein Wohngebiet. Schließlich mache man bei diesem emotionalen Thema auch die Männer „zur Zielscheibe“.

Dix erwartet tägliche Proteste, sollten die Männer in das frühere Dienstgebäude einziehen. „Ich finde es für die Anwohner nicht fair, sie dieser Gefahr auszusetzen, ich finde es aber auch für die Männer nicht fair“, sagt Dix. „Bei Kinderschändern setzt doch bei vielen der Verstand aus.“

[„Der Offene Vollzug für Sicherungsverwahrte macht Anwohnern große Sorgen“, berichtet Gerd Appenzeller aus Reinickendorf. Die ganze Geschichte lesen Sie hier. Mehr Reinickendorf-Nachrichten erhalten Sie wöchentlich in unserem Leute-Newsletter. Hier kostenlos bestellen: http://leute.tagesspiegel.de]

Die drei Männer, die als Erstes in das neue Wohnhaus ziehen sollen, seien über 60 Jahre alt und seit vielen Jahren in der Sicherungsverwahrung in der JVA Tegel untergebracht, sagt die Leiterin der Sicherungsverwahrung, Kerstin Becker. Becker und ihr Fachteam haben der Justizverwaltung den Vorschlag gemacht, das leer stehende Gebäude gegenüber zu nutzen. Ziel des neuen offenen Vollzuges sei es, den „Übergang zwischen dem begrenzten Leben in der JVA und der Freiheit, der Gesellschaft da draußen, besser zu strukturieren“, sagt Becker. Die Männer sollen nicht vom einen auf den anderen Tag in die Freiheit entlassen werden.

Offener Vollzug ist die letzte Stufe vor der Freiheit

Wer in Sicherungsverwahrung sitzt, hat seine Strafe schon verbüßt. Doch weil die 48 Männer weiterhin als gefährlich angesehen werden, muss die Allgemeinheit vor ihnen geschützt werden. Jedes Jahr muss eine neue Prognose erstellt werden: Sind sie noch gefährlich? Wenn nicht, müssen sie in die Freiheit entlassen werden. So wie die drei älteren Männer, die als Erste in den offenen Vollzug umziehen könnten. Sie durchlaufen seit Jahren Stufen der Lockerung. „Diese Männer bewegen sich auch heute schon im Stadtgebiet“, betont Becker. Der offene Vollzug soll die letzte Stufe vor der Freiheit sein.

Seit 2015 wurden 15 Sicherungsverwahrte aus der JVA Tegel entlassen. Einer wurde rückfällig und sitzt inzwischen wieder im Gefängnis. Er war ohne Vorbereitung aufgrund eines Justizfehlers aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden, der Richter hatte Akten verloren und Gutachten nicht in Auftrag gegeben. Aus Sicht der Justizverwaltung taugt der Fall nicht, um gegen den offenen Vollzug für Sicherungsverwahrte zu argumentieren. „Dieser Mann wäre von uns aus nie freigelassen worden“, sagt Justizsprecher Sebastian Brux.

Seit 2013 gibt es Gesetz über den Vollzug der Sicherheitsverwahrung

Die Sicherungsverwahrung ist der schwerste Eingriff in das Freiheitsrecht, den der Rechtsstaat kennt. 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht die bestehenden Regeln als verfassungswidrig eingestuft, Deutschland musste die Rahmenbedingungen verbessern und auch ein offener Vollzug muss für Sicherungsverwahrte möglich sein. Seit 2013 gibt es das Gesetz über den Vollzug der Sicherungsverwahrung in Berlin. Insofern ist man hier mit der Umsetzung spät dran.

Fenster zum Hof: Gefangene blicken aus ihren Zellen in den Innenhof der JVA.
Fenster zum Hof: Gefangene blicken aus ihren Zellen in den Innenhof der JVA.

© IMAGO

„Andere Bundesländer wie Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben bereits die Sicherungsverwahrung im offenen Vollzug, das einzig Neue hier ist, dass wir eine gesonderte Einrichtung dafür schaffen“, sagt der Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). Er widerspricht der Behauptung, es sei eine Idee des Senats, die Gesetzeslage sei zwingend.

Justizsenator Behrendt: Gesetz sieht keine Mauern vor

Für den Rechtsexperten der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Sven Rissmann, ist das eine klare Besserstellung der Sicherungsverwahrten im offenen Vollzug gegenüber Straftätern im offenen Vollzug. „In den Haftanstalten des offenen Vollzuges sind die Straftäter hinter Mauern untergebracht, auch wenn sie sie verlassen können. Warum soll das bei einem Personenkreis, der deutlich gefährlicher ist, anders sein?“, fragt Rissmann.

Der Justizsenator sagt, man habe überlegt, die Männer im gleichen offenen Vollzug wie die „Strafer“ unterzubringen. „Wir haben uns aber aus dem fachlichen Grund dagegen entschieden, dass wir nur so eine Betreuungskontinuität beim psychiatrischen Fachpersonal haben“, sagt Behrendt. Außerdem sei im Gesetz klar Folgendes geregelt: „Einrichtungen des offenen Vollzugs sehen verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vor.“ Für Behrendt heißt das: keine Mauern.

Marian Dix überzeugt das nicht. Er sagt, diese drei Männer würden „nach heutigem Stand von keinem Gutachter der Welt eine Prognose für eine Freilassung bekommen“, die Sicherungsverwahrung besteht fort. „Wieso sollen sie dann hier alleine frei rumlaufen können?“

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