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Polizisten blockieren im September 1991 eine Straße in Hoyerswerda.

© Zentralbild/dpa

Rassistische Gewalt nach dem Mauerfall: Für Migranten wurde das neue Deutschland zur Gefahr

Von Hoyerswerda bis Solingen: Die Wiedervereinigung hatte für viele Migranten gravierende Folgen. Rassistische Gewalt bestimmte die politische Agenda.

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„Gastfreundschaft war zugesagt und jetzt heißt es: Türken raus!“ Diese Worte fand der Rockmusiker Cem Karaca fünf Jahre vor dem Mauerfall, im Jahr 1984. Karaca, 1945 in Istanbul geboren, lebte seit Ende der 1970er in Köln im Exil. Dort besang er auch in deutscher Sprache die vielen negativen Erfahrungen, die sogenannte Gastarbeiter und andere Migranten in der Bundesrepublik machten: von gesellschaftlicher Ablehnung und täglichen Anfeindungen bis hin zu körperlicher Gewalt.

All das nahm mit der Wende drastisch zu. Was viele als den glücklichsten Moment in der deutschen Geschichte beschreiben, die Grenzöffnung am 9. November 1989, läutete für zahlreiche Migranten in Ost und West eine Zeit höchster Verunsicherung ein. In der DDR lebten damals 94.000 „Vertragsarbeiter“, die meisten aus Vietnam. Eine Mehrheit davon wurde schnell nach der Wende in ihre Heimatländer abgeschoben. Für sie platzte mit dem Ende der DDR oft ein Traum auf ein besseres Leben.

Doch auch im Westen änderte sich vieles für die Migranten im Land. Waren sie gerade noch von der Gesellschaft halbwegs akzeptierte Mitbürger, Kollegen und Nachbarn, wurden sie wie über Nacht plötzlich für unerwünscht erklärt. Vielerorts hieß es ganz offen „Deutschland den Deutschen“ – im Chor gebrüllt mit dem Zusatz: „Ausländer raus!“

Gut an die Zeit erinnern kann sich Safter Çınar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg (TBB). Über die Tage nach dem Mauerfall, als die Menschen in Berlin auf der Straße tanzten, sagt er: „Die Euphorie der Mehrheitsgesellschaft hat damals auch die Minderheitsgesellschaft erfasst.“ Für viele Migranten sei die Grenzöffnung nicht nur ein Grund zur Freude gewesen. Zahlreiche türkeistämmige Menschen hätten darin auch eine persönliche Chance für sich gesehen, sagt Çınar.

Als später im Zuge der Wiedervereinigung die westdeutschen Berlin-Subventionen wegfielen, hätten viele Türkeistämmige ihr wirtschaftliches Glück in den neuen Ländern versuchen wollen – mit der Eröffnung eines Geschäfts etwa. „Doch nach Hoyerswerda und anderen Fällen rechter Ausschreitungen hatten sie Angst, in den Osten zu gehen“, sagt Çınar. „Sie fürchteten sich um ihre Sicherheit und um die ihrer Kinder.“

Safter Çınar ist Sprecher des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg (TBB).
Safter Çınar ist Sprecher des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg (TBB).

© picture alliance

Auf die Gewalt in Hoyerswerda folgten Exzesse im ganzen Land

In der sächsischen Stadt Hoyerswerda tobte im September 1991 die rechte Gewalt, gerichtet gegen „Vertragsarbeiter“ und Asylbewerber. Es folgten rassistische Exzesse im ganzen Land, in Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln. Die Namen der Städte stehen bis heute für die Neonazi-Welle, die damals durch Ost und West rollte. 198 Todesopfer rechter Gewalt zählt die Amadeu-Antonio-Stiftung seit 1990.

Thanh Huu Nguyen kennt die Bedrohung aus eigener Erfahrung. 1986 kam er als Student der Wirtschaftswissenschaften aus Vietnam in die DDR, in ein „schönes, friedliches Land“, wie er heute sagt. Nach der Wende schrien ihn Menschen am Berliner S-Bahnhof Schöneweide an: „Wir wollen euch in unserem Land nicht!“ Dann schlugen sie zu.

Pogrome in Erfurt: „Die DDR-Regierung vertuschte das“

Völlig neu war die Gewalt nicht. „Schon im Sommer 1975 gab es in Erfurt über Tage hinweg ausländerfeindliche, pogromartige Ausschreitungen“, sagt der Migrationsforscher Patrice Poutrus. „Die DDR-Regierung vertuschte und tabuisierte das aber.“ Anders nach der Wende: Da „offenbarte sich eine Sprache und Gewalt, die so vorher nicht möglich war“. Hatten rechte Straftaten bis dahin „weit außerhalb des politischen Konsenses“ stattgefunden, trafen im nationalen Taumel der Wendezeit die Forderungen der Schläger und Brandstifter plötzlich auf viele offene Ohren – in der breiten Bevölkerung genau wie im Parlament in Bonn.

Türkeistämmige Mädchen vor der Berliner Mauer in Berlin/Kreuzberg, 1984.
Türkeistämmige Mädchen vor der Berliner Mauer in Berlin/Kreuzberg, 1984.

© IMAGO/Sommer

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„In den Neunzigerjahren nutzte die Politik die rassistischen Ausschreitungen für die Legitimierung des eigenen Handelns“, sagt Poutrus, der an der Universität Erfurt forscht. „Das Ergebnis waren die massiven gesetzlichen Verschärfungen im Asylkompromiss.“ Im Dezember 1992 schränkte der Bundestag mit den Stimmen von Union, FDP und SPD das deutsche Asylrecht stark ein, nachdem die Zahl der Asylanträge mit dem Fall des Eisernen Vorhangs kräftig gestiegen war.

Nach der Wende kam der integrationspolitische Rückschritt

Die Politik wollte vor allem verhindern, dass weiterhin Bilder von Hitlergrüßen, brennenden Häusern und blutenden Menschen von Deutschland aus um die Welt gingen. Statt jedoch eine härtere Gangart gegen rechts einzuschlagen, sollten mehr Abschiebungen und Rückweisungen ausländischer Staatsbürger das Neonazi-Problem im Land lösen.

Auch Menschen mit gesicherten Aufenthaltstiteln habe die „Asyldebatte“ der 90er Jahre in Angst versetzt, sagt der Wissenschaftler Poutrus. Würde sich die Stimmung bald auch gegen sie wenden? „Sie fragten sich: Wann sind wir dran?“

Patrice Poutrus forscht an der Universität Erfurt zur Migrationsgeschichte Europas.
Patrice Poutrus forscht an der Universität Erfurt zur Migrationsgeschichte Europas.

© Marco Fechner

Integrationspolitisch seien die Nachwende-Jahre eine Zeit des Rückschritts gewesen, sagt der Aktivist Çınar: „Bundesländer wie Hamburg oder Bremen hatten bereits das kommunale Wahlrecht für Ausländer beschlossen. Mit der Wende sind solche Themen allerdings schnell in den Hintergrund gerückt, die Wiedervereinigung hat alles überlagert.“

Türkische Väter verabredeten sich zur gemeinsamen Nachtwache

Vor dem Mauerfall habe man sich in der Bundesrepublik vor allem als Bürger der freien, der westlichen Welt definiert, sagt Poutrus. Das änderte sich mit dem Ende der DDR. „Auf einmal wurde die Abstammung das zentrale Kriterium, über das Menschen eine Daseinsberechtigung verliehen wurde.“ Deutschland sollte in den Augen vieler nur noch „den Deutschen“ gehören - und allenfalls „Aussiedlern“ mit deutschen Wurzeln. Vor den Häusern mancher Arbeitersiedlungen verabredeten sich die Väter türkischer Familien indes zur gemeinsamen Nachtwache, um im Falle eines Anschlags die eigenen Kinder schnell retten zu können.

Noch verschärft habe sich die prekäre Lage, als die Freude über die friedliche Revolution der Vereinigungskrise und dem Treuhand-Frust wich, sagt Poutrus. Die Migranten seien „schnell zu Sündenböcken gemacht“ worden. „Die vorher schon latent vorhandene Feindlichkeit schlug dann vielerorts offen durch.“

Vielleicht ist das der Grund, warum der Ökonom Nguyen aus Vietnam bis heute nichts Schlechtes über die DDR sagen will: „Nicht alles war so schlimm, wie viele es heutzutage darstellen.“ Safter Çınar beobachtet diese Einstellung auch in der türkischen Community in Berlin, wo einige Ältere, die ehemaligen „Gastarbeiter“, heute sagten: „Als die Mauer noch stand, war es besser für uns.“

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