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Erste Generation. Noch in den 1990ern traf sich einmal in der Woche eine "Berliner Runde" in Bad Eilsen.

© privat

Geschichte der Kurberliner in Bad Eilsen: Warum ein paar alte Berliner im Weserbergland ihr Glück fanden

Einst war Bad Eilsen die Moorbadewanne West-Berlins, der Kurort in Niedersachsen war Hauptanlaufpunkt für malade Frontstädter. Manche blieben ein paar Wochen, andere für immer. Der vollständige Text - jetzt online.

Meine Suche beginnt im „Stramers“, der letzten Kneipe Bad Eilsens. Donnerstags ist im Stramers Schnitzeltag. Donnerstags ist auch Veggie-Tag in der angrenzenden Reha-Klinik. Das Stramers ist entsprechend gefragt. Die Gäste sitzen an hohen Bistrotischen, an der Kante lehnen Krücken. An den Wänden Fotos aus den 1920ern, als Künstler und Könige nach Bad Eilsen kamen. Also Schnitzel, dazu Bitburger und ein Hocker an der Bar.

Hinterm Tresen zapft Petra Stramer das Bier.

„Kommst auch aus der Klinik, was?“

Ihr Blick bleibt an mir haften, sie schiebt den Zapfhahn zurück und setzt das Glas ab. Petra Stramer, ein Lachen mit vielen Zähnen, im Ausschnitt ein silbriges Fake-Tattoo, kennt zwei Arten von Gästen: Gäste, die täglich da sind, und Kurgäste, die nur vier Wochen täglich da sind.

„Ich bin wegen der Berliner hier“, sage ich.

„Da gibt’s hier einige“, sagt die Wirtin.

Das hatte ich gehofft. Vier Wochen lang war meine Mutter in Bad Eilsen auf Kur, chronischer Muskelschmerz, Fangopackungen und Schwefelwasser sollten helfen. Gesund wurde sie nicht, brachte aber einen Mythos mit nach Hause.

Ob ich davon wisse, dass Bad Eilsen zu Teilungszeiten in gewisser Weise der westlichste Außenposten West-Berlins gewesen sei, fragte sie mich. Eine Stadtführerin habe es so erzählt: In den 70ern sei der Ort im Weserbergland, nahe Bückeburg, im Grenzland zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, förmlich explodiert vor Besuchern aus Berlin. Überall auf den Straßen habe man die Mundart gehört, Kundige hätten sogar den Stadtteil erkannt. Die Bürgermeisterin der Gemeinde bestätigte mir die Geschichte auf Nachfrage: Sie habe damals häufig beim Einkaufen neben Menschen gestanden, die nach „Hackepeter“ und „Schrippen“ fragten. Der Grund für die Berliner Invasion sei ein Abkommen zwischen der Landesversicherungsanstalt Berlin und den Kurkliniken im Ort gewesen. Vier Wochen lang blieben die Berliner, bei Verlängerung auch mal sechs. Und manche gleich ein ganzes Leben.

„Und wo genau sind sie?“, frage ich Petra jetzt.

„Da musst du Kurti fragen, Kurti weiß alles“, sagt Petra, greift um meine Schultern und schiebt mich neben einen Mann mit wenig Hals und viel weißem Haar. Kurti gehört zu denen, die täglich kommen, und das schon sehr lange. „Die Berliner wohnen alle auf dem Hügel“, sagt er und hebt seine Biertulpe westwärts. „Am besten, du gehst einfach mal klingeln.“

Berliner Hügel. Hier baute Bad Eilsen in den 1970ern für seine Zugezogenen.
Berliner Hügel. Hier baute Bad Eilsen in den 1970ern für seine Zugezogenen.

© Lisa McMinn

„Berliner Hügel“, so nennen die Einwohner den Hang am Berg Harrl, auf den die Kurberliner zogen. Von dort lässt sich Bad Eilsen gut überschauen. Rund 2500 Menschen leben hier. Der Ort schmiegt sich zwischen zwei Höhen, den Bückeberg, mit 360 Metern kein richtiger Berg, aber immerhin dreimal so hoch wie der Teufelsberg im Grunewald, und den etwas flacheren Harrl. Die A2 kann man sehen, hören kann man sie an diesem Tag nicht. Buchen und Eichen ziehen sich ins Tal, darin sammeln sich Einfamilienhäuser, umgeben von geharkten Gärten. Im Hintergrund hat der Herbst die Höhen bunt betupft.

Der Hügel wurde in den 70er Jahren als Wohngebiet erschlossen, der Bedarf war groß. Schon vor Baubeginn im Jahr 1974 gab es zahlreiche Anmeldungen für die Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. Knapp 80 Prozent der Erstbewohner waren Berliner, sagt die heutige Bürgermeisterin. Während ihrer Kur hatten sie den Ort kennengelernt, nun wollten sie West-Berlin, die Insel in der DDR, verlassen, in die Heimeligkeit ziehen, aufs Land. Das Wohngebiet besteht aus zwei Straßen, der ThomasMann-Straße, einer Ringstraße die in einer breiten Kurve den Hügel hinauf führt, und der Franz-Liszt-Straße, die den Ring durchkreuzt. Rechts und links säumen sie Wohnblöcke, ockergelb und lindgrün, winkelförmig auf gestutztem Rasen angeordnet. Drei Stockwerke sind sie hoch, obendrauf ein flaches Dach.

Ich klingle an der Nummer 29, ockergelb, sechs Parteien. Barbara Kraft öffnet die Tür, eine rundliche Frau mit grauen Locken. Unter ihrem rechten Arm klemmt ein Dackel. Der Hund, massiger Körper, kleiner Kopf, grummelt und windet sich, vergebens, Barbara Kraft hält fest, und bittet mich hinein.

Die Wohnung ist übersichtlich – zwei Zimmer, Küche, Bad, vor der Stube ein ausladender Balkon, in den Töpfen Heidekraut, und ein buntes Windrad. Hans und Barbara Kraft sind, wenn man so will, Berlinflüchtige der zweiten Generation. Zum Boom, 1979, zogen zunächst Barbara Krafts Eltern auf den Hügel. „Die haben die Berliner Luft nicht mehr vertragen“, sagt Hans Kraft, heute selbst Rentner, am Körper Feinstrick, an den Füßen Puschen. Damals lebte er mit seiner Frau in Kreuzberg, danach noch eine Zeit lang im Wedding, zuletzt arbeitete er als Hausmeister, in Buckow. Nach der Wende, im Jahr 1997, zogen die Krafts den Eltern hinterher, nach Bad Eilsen.

Glücklich gelandet. Die Krafts wollen nicht mehr weg.
Glücklich gelandet. Die Krafts wollen nicht mehr weg.

© Lisa McMinn

Bis dahin stiegen sie fast jedes Wochenende in den „Haru“-Bus. Haru, so hieß das Unternehmen, das die erholungsbedürftigen Berliner gen Westen brachte. Der Bus war voll, die Stimmung gut, erinnert sich Hans Kraft. Unter den Reifen wummerten die Betonplatten der Transitstrecke. Wenn sie Magdeburg hinter sich gelassen hatten, schallte aus den Boxen blechern „Major Tom“ von Peter Schilling. „Weißte noch?“, Hans Kraft nickt seiner Frau zu. „Völlig losgelöst, von der Erde“, singt Barbara Kraft und wippt – der Dackel wackelt mit. „Die Bockwürste waren auch ordentlich“, sagt Hans Kraft. Huch, Bockwurst an Bord? „Neben dem Fahrer, auf der Kunststoffarmatur dampfte der Kocher“, erinnert sich Kraft. Die hätten immer gut geschmeckt, und sowieso, auf den Bus war Verlass: „Der konnte ja nur 100 fahren, aber da wusste man, in vier Stunden ist man da.“

Für Erholung im eigenen Land war Niedersachsen von West-Berlin aus das nächstgelegene Ziel. Der Bäderbus klapperte jeden Sonntag die Kurorte ab. Bad Nenndorf, Bad Pyrmont, Bad Eilsen, hinter der Grenze zu Nordrhein-Westfalen lag noch Bad Oeynhausen. Damals brachte der Haru-Bus einmal die Woche eine Ladung West-Berliner in diese Orte, setzte sie vor den Kurkliniken ab und nahm die Genesenen wieder mit. Die Heilanstalten Bad Eilsens nahmen gemessen an der Gesamtzahl der Besucher besonders viele Berliner auf, rund die Hälfte der Kurgäste kam dort her.

1957 hatte die Landesversicherungsanstalt Berlin-Hannover einen Großteil der Kuranlagen in Bad Eilsen gekauft: den Park mit seinen Schwefelquellen, die Badehäuser mit ihren Schlammwannen, und mehrere Kliniken. Die damalige Berliner Landesversicherung – heute ist sie in der Deutschen Rentenversicherung aufgegangen – hatte feste Kapazitäten in den Kliniken gebucht. Deshalb schickten Berliner Ärzte ihre Patienten vorrangig nach Bad Eilsen. Seit 1969 sind die dortigen Heilquellen staatlich anerkannt, entsprechen also den erforderlichen Qualitätskriterien von Tourismus- und Heilbäderverband. Der Lohn dafür war im Jahr 1971 die Vorsilbe „Bad“. Kuriert werden bis heute vor allem rheumatische Erkrankungen, auch Orthopädie ist ein Behandlungsschwerpunkt. In den 80ern fuhr der Bäderbus mehrmals wöchentlich, nach der Wende zunächst gar täglich. Das Geschäft lief, auch in den Kneipen. Tanz- und Trinkkur nannte man das.

Das war der Grund, warum sie kamen, doch was ließ die Berliner bleiben? Ein tieferer Einblick in die Geschichte des ältesten Schlammbads in Deutschland soll mir helfen, es zu verstehen. Nachhilfe bekomme ich von Friedrich Winkelhake: Leiter des Heimatvereins, pensionierter Geschichtslehrer, Ur-Bad-Eilsener. Erster Halt ist die Harrlallee. Wir stehen am oberen Ende, von hier führt die Straße hinunter ins Dorf, sie endet am Stramers. Die Morgenluft trägt feine Tropfen, Winkelhake schüttelt sie von der Lederjacke und steckt die Hände in die Taschen. Also, Herr Winkelhake, was hat Bad Eilsen, was Berlin nicht hat? „Bad Eilsen war ein Weltbad!“, sagt der Historiker. Was folgt, ist Schwärmerei und Stolz, gepaart mit Sachkunde. Auf der anderen Seite des Berges, in Bückeburg, dort stehe das Schloss der Dynastie zu Schaumburg-Lippe. Vor etwas mehr als 200 Jahren habe Fürstin Juliane beschlossen, die Schwefelquellen ihres Vorgartens zu nutzen. Über die Harrlallee, auf der wir stehen, erreichten die Kutschen der Fürstenfamilie das Bad, rechts und links Pappeln wie Soldaten, damals müssen die Bäume schmächtig gewesen sein, heute tragen sie stolze Kronen.

Ortskundig. Friedrich Winkelhake weiß annähernd alles über Bad Eilsen.
Ortskundig. Friedrich Winkelhake weiß annähernd alles über Bad Eilsen.

© Lisa McMinn

Winkelhake bittet mich in seinen bronzefarbenen Renault, er hat es eilig, will eigentlich seine samstägliche Wanderung durch das Umland beginnen, also rollen wir schnell den Hang hinab und steigen am Kurpark aus. Der Rasen ist übersät mit gelbem Laub. Nur ein paar Bauernhöfe hatten hier gestanden, als Juliane zu bauen begann, erklärt der 81-Jährige. Sie ließ die Höfe versetzen, die dem ersten Badehaus wichen. Dann setzte der Tourismus ein.

1805 folgte das erste Gästehaus, die Landwirte wollten mitverdienen, auch sie richteten Fremdenzimmer ein. Über den Schwefelquellen wölbten sich nun Trinktempel, bis zu zwölf Gläser des Wassers sollte man täglich zu sich nehmen, so die damalige Empfehlung, lauwarm oder mit Ziegenmolke, gut für Lunge, Haut und Magen. Heute trinken das faulig riechende Wasser nur noch die Mutigen, in den Kliniken dient es als Badezusatz.

Unsere Schritte rascheln auf dem Weg zum nächsten Halt: dem Fürstenhof. Rundbögen im ersten Stock, darüber auf Säulen vier weitere Etagen mit hohen Fenstern und verzierten Balkonen. „Das war mal das eleganteste Hotel Europas“, sagt Friedrich Winkelhake. 1918, kurz bevor der Kaiser in Berlin abdankte, ließ der Fürst zu Schaumburg-Lippe das Haus für die feine Gesellschaft fertigstellen. Ein Relikt seines Adels, kurz bevor aus seiner Grafschaft ein Freistaat in der neuen Republik wurde. Vornehme Gäste kamen später trotzdem ins Hotel, Winkelhake zeigt auf eine Schautafel mit den Namen: Gerhart Hauptmann, Richard Tauber, sogar der König von Schweden soll mal zu Gast gewesen sein, als der Ort 1934 die Weltwirtschaftskonferenz ausrichten durfte. Bad Eilsen stand für Luxus: ein Freibad mit eigener Gymnastiklehrerin, ein Freilufttheater, eine Orchestermuschel und eine eigene Kleinbahn, das „Eilsner Minchen“, sechs Kilometer Schienen, die die Gäste vom Bahnhof in Bückeburg bequem durch einen Tunnel nach Bad Eilsen brachten.

Jedes Mal stirbt Bad Eilsen ein bisschen mehr

Alles so schön bunt hier. In diese Anlagen verliebten sich viele Berliner.
Alles so schön bunt hier. In diese Anlagen verliebten sich viele Berliner.

© Touristinformation Bad Eilsen

Heute wird im Kurpark nicht mehr gewandelt, sondern gewalkt. Wolfgang Müller, 67 Jahre alt, trägt eine stramme Laufhose nebst Windjacke, und wenn er die Stöcke in den Boden stößt, knirschen die Steine und springen zur Seite. Vor 15 Jahren kam der Neuköllner zum ersten Mal, heute ist er Ehrenkurgast, es ist sein 32. Besuch, immer bucht er in der Bückeburg-Klinik, die früher Vertragsklinik der Berliner war. „Hinten Wald, vorne Wald, jedes Zimmer ein Balkon“, sagt er, das sei es, was er brauche. Nach dem 25. Besuch erhielt er die Ehrenkurkarte vom Bürgermeister, seitdem wird ihm die Kurtaxe erlassen. Die Aufenthalte bezahlt er privat. Für ihn ist Bad Eilsen Urlaub, im Grunde sei die Klinik wie ein Wellnesshotel, sagt Müller. Im Frühjahr kommt er zum Radfahren, im Herbst zum Walken, und jeden Abend Sauna, außer Mittwoch, da ist Frauentag. Es war ein Rat seiner Schwiegermutter, hierherzukommen, auch sie war in den 70ern zum ersten Mal hier. Seine Kumpels in Neukölln fragen immer, wieso er nicht lieber all-inclusive bucht, in der Türkei? Aber da würde ihm die Dörflichkeit fehlen. Am Empfang begrüßen die Angestellten ihn mit Namen, und im Gemeinschaftsraum trifft er die anderen Wiederkehrer. Ihr gemeinsames Thema: die Hüfte.

42 Jahre und 123 Tage war er Schutzpolizist, so genau stand es in dem Schreiben, das er zum Ruhestand erhielt. Rotlichtbereich, da gab es immer viel zu tun, erzählt Müller, vor allem nach der Wende hätten im Ostteil der Stadt viele Bordelle eröffnet. Der Polizeidienst hinterließ Spuren, Bad Eilsen versprach Ruhe. Heute hat Müller zusätzlich zu den Hüft- auch Knieprobleme, aber seine Brust ist immer noch breit. „In Neukölln schaue ich aus meinen Fenster ins andere Haus“, sagt er. „Hier sehe ich die Berge.“ Nun schaut er sich gar nach einer eigenen Ferienwohnung um. Doch ganz sicher ist er sich noch nicht. Was ihn zweifeln lässt? „Jedes Mal, wenn ich komme“, sagt Müller, „stirbt Bad Eilsen ein bisschen mehr.“

Soll ich's wirklich machen... Wolfgang Müller überlegt, in Bad Eilsen eine Wohnung zu kaufen.
Soll ich's wirklich machen... Wolfgang Müller überlegt, in Bad Eilsen eine Wohnung zu kaufen.

© Lisa McMinn

Es sind die Alten, die dem Ort geblieben sind. 53,8 Jahre alt sind die Bewohner durchschnittlich, damit ist Bad Eilsen die drittälteste Gemeinde Niedersachsens. Im vergangenen Jahr sind hier mehr als doppelt so viele Menschen gestorben, wie geboren wurden. Den Zustrom aus Berlin gibt es schon lange nicht mehr: Nach der Wende wurde auch Brandenburg wieder eine Urlaubsoption für West-Berliner, heute boomen gerade Wellnessangebote im Umland. Die Gesundheitsreform tat ihr Übriges, um Bad Eilsen für Berliner auf der Suche nach Erholung und vor allem Heilung in weite Ferne zu rücken: Das Sparprogramm von 1997 sollte Krankenversicherungen und Rentenkassen stärken, die Kurbäder aber hat es geschwächt. Von einst sieben Kureinrichtungen in Bad Eilsen sind nur zwei geblieben: eine Klinik für Rentner, Rheumatologie und Orthopädie, und die Reha-Klinik im Fürstenhof. In der halten sich heute vor allem Menschen auf, die noch arbeiten müssten, aber es nicht mehr können. Die alten Kliniken, unter anderem eine Lungenheilanstalt, wurden umfunktioniert – zu Altenheimen. Elf Senioreneinrichtungen hat Bad Eilsen heute.

Haru-Reisen stellte seinen Bäderbus noch in den 90er Jahren ein. Eine Sparkasse, ein Edeka-Markt und ein Postkiosk bilden heute das Zentrum des Orts. Die Cafés sind an einer Hand abzuzählen, und von rund zehn Kneipen blieb genau eine: das Stramers.

Zur Mittagszeit beschließe ich, nicht schon wieder dort zu landen – sondern in „Omas Kaffeestube“. Was ich suche, ist Tratsch, am liebsten mit starkem Berliner Akzent. Ich suche Urberliner, die noch hier sind, die Generation, die in den 70ern kam. Mindestens 80 Jahre alt müssen sie heute sein, vermute ich. Das Café erscheint mir für meine Zwecke vielversprechend, die Sofas barock, die Torten hausgemacht, und Kaffee wird im Pott serviert – Klein-Zehlendorf, meine Hoffnung wächst. Ich betrete den Gastraum. Gestärkte Tücher bedecken die Tische, darauf Porzellanteller und violette Servietten. „Gehören Sie zur Trauergesellschaft?“, fragt die Bedienung. Nein. Die Frage, ob der Verstorbene Berliner war, schlucke ich an einem der verbliebenen Tische, die hellorange eingedeckt sind, mit etwas Käsekuchen herunter.

Also weiter, zur Fußpflege, da gibt es ja auch viel zu erfahren. „Kommen Sie aus Berlin?“, frage ich die Podologin und schiebe die Füße ins Schaumbad. Sie ist keine Berlinerin, sondern aus Bückeburg, und auch nicht alt, sondern sehr jung. Doch zwei ihrer Kundinnen kommen tatsächlich aus Berlin. „Frau Semler wohnt drüben, im Haus Desiree“, sagt sie und tupft mit einem Tuch meine Zehen trocken.

Alt im Bad Eilsener Heim. Sabine Semler wird nicht mehr nach Zehlendorf zurückkehren.
Alt im Bad Eilsener Heim. Sabine Semler wird nicht mehr nach Zehlendorf zurückkehren.

© Lisa McMinn

Als Sabine Semler aus Zehlendorf vor rund 40 Jahren das erste Mal nach Bad Eilsen kam, war Schlamm hier der große Wellness-Hype. „Salbenartig weich“ soll der gewesen sein, schreibt der frühere Eilsener Badearzt Horst Merckens. Primär bestehe er aus „Resten der pflanzlichen und tierischen Lebenswelt und deren Stoffwechselprodukten“. In der Nachkriegszeit wurden für die Moorbäder in den Kliniken Kammern eingerichtet, zeitgemäß, in Hellblau und Senfgelb. In der Mitte der Zimmer stand ein Podest aus zwei Wannen, dicht aneinander, wie die Matratzen eines Ehebettes. Die Erde war den Schlammteichen der Hügel entnommen, in großen Loren wurde sie gebracht, in Rührbottichen erhitzt, durch Rohre geleitet, bis sie das Kachelbad erreichte. Aus einer Öffnung in der Wand floss der Brei aus Erde und Gehölz in einen der Zuber. Der Badegast glitt hinein, die Masse nahm ihn auf und ließ seinen Körper schweben. 46 Grad. 30 Minuten. Die Paste versetzte den Badenden in ein künstliches Fieber. Dann entstieg er dem Moor, wechselte in die Nachbarwanne und wusch sich mit Wasser die Erde von der geröteten Haut. Das regte die Durchblutung an, linderte rheumatische Beschwerden, stillte Schmerzen, entspannte, und östrogene Substanzen sollten sogar die Fruchtbarkeit steigern.

Der Grund für Sabine Semlers ersten Aufenthalt in Bad Eilsen war ein Wirbelsäulenbruch. Die Bäder sollten helfen. Heute gibt es die Wannen nicht mehr, und Frau Semler wohnt im Seniorenheim Desiree. Im Treppenhaus flackern Neonröhren, eine verloren wirkende Dame wandelt über den Flur. Als ich die Zimmertür öffne, bin ich erleichtert, eine Frau vorzufinden, die lacht und offensichtlich ganz bei sich ist. Sabine Semler sitzt an einem Holztisch, darauf ein Strauß Hortensien aus dem eigenen Garten. Die Haut der 83-Jährigen ist noch ganz glatt. Semler bemüht sich hörbar, nicht zu berlinern, nur wenn sie über den Niedergang der Bad Eilsener Moorbadkultur schimpft, kann die Zehlendorferin ihre Herkunft nicht verstecken: „Heute kricht man nur noch diese Fango-Packungen“, sagt sie, „dit is doch allet nicht mehr das Gleiche.“

Während der Kur freundete sie sich mit Rolf an. Rolf war Architekt. Er lebte in Bad Eilsen, und immer wenn Sabine Semler hier zu Gast war, erst zur Heilung, später zur Stabilisierung der Knochen, nahm er sie mit auf Spazierfahrten über Land. Einer dieser Ausflüge veränderte ihr Leben. Rolf hielt das Auto an, vor einer Wiese am Hang, und sagte: „Zwei Grundstücke, Sabine. Eins für dich und deinen Mann, eins für mich und meine Frau.“

Bald schon führte sie Kommando über Maurer und Installateure. Im Garten stand ein Wohnmobil, und wenn ihr Mann freibekam – er war Beamter in der Berliner Verwaltung – dann verbrachten sie die Sommerabende auf der Wiese vor dem Wagen, mit einem Glas Wein, und betrachteten ihr wachsendes Glück. „Ich habe es nie bereut, hierhergezogen zu sein“, sagt sie. Ihr Mann starb, doch die Freundschaft zu den Nachbarn besteht noch immer. Erst am Vormittag haben sie ihr Strickjacken und Mäntel gegen die Herbstkälte mitgebracht, aus Semlers Haus, von dem sie sich trotz ihres Umzugs ins Heim noch nicht trennen konnte, im Garten pflückt sie bis heute Brombeeren.

Auch Günter und Irmgard Andlefske kauften 1979 ihre erste Ferienwohnung in Bad Eilsen, direkt am Kurpark. Als sie in Rente gingen, 1994, kehrten sie Berlin komplett den Rücken und zogen auf den Berliner Hügel. Für immer – so war der Plan. Doch das Paar lebt nicht mehr in Bad Eilsen. Ich treffe sie nach meiner Rückkehr in ihrer neuen Berliner Wohnung in Grunewald. Wir sitzen im Altbau am Kaffeetisch, Waldblick, der Lebkuchen wird auf Glaskristall serviert. Ein Seniorentraum, nicht nur für Berliner.

Die Rückkehrer. Günter und Irmtraud Andlefske zogen wieder nach Berlin.
Die Rückkehrer. Günter und Irmtraud Andlefske zogen wieder nach Berlin.

© Lisa McMinn

„Ich habe Heimweh nach Bad Eilsen“, sagt Günter Andlefske.

„Es hat sich verändert“, sagt seine Frau.

Eine Urlaubsbekanntschaft brachte sie einst ins Weserbergland. Kennengelernt hatte man sich im Ötztal in Österreich. Kommt doch mal bei uns vorbei, sagten die neuen Freunde, da kann man auch wandern. So fing es an. Von da an tanzten sie gemeinsam im „Fuchsbau“, tranken im „Mittelpunkt“, freitags war „Putenrennen“ im „Waldhof“, da durften die Damen die Männer auffordern, aber da brauchten Günter und Irmgard Andlefske nicht hin, sie hatten sich ja schon. „Das alles war für uns die heile Welt“, sagt Günter Andlefske. Nahezu jeden Freitag fuhren sie über die Grenze, immer mit einem Golf der neuesten Generation, bremsten hinter Magdeburg ab, legten den Ausweis vor, nannten ihr Ziel, dann waren sie draußen.

Sie fuhren bis zur Abfahrt Bad Eilsen, der erste Halt war „Schinken-Kruse“, ein Landgasthof an der Autobahn. Schinkenbrot, aus eigener Schlachterei, und Hochzeitssuppe. Dann in die Wohnung, die Sachen abgestellt, die Wanderschuhe geschnürt und auf den Bückeberg. Wandern, Weite, Freiheit. Das für immer zu haben, war ihr Wunsch, als sie zur Rente die Wohnung in der Thomas-Mann-Straße bezogen. Montags Wassergymnastik, dienstags Trockengymnastik, an Mittwochabenden organisierte Günter Andlefske das Gästeschießen im Schützenverein, aber die Kurgäste blieben nur bis zehn Uhr – um halb elf werden die Türen der Kliniken verschlossen. Jeden Tag dabei sein, gefragt und gebraucht werden, es waren erfüllende Jahre.

Wenn Günter Andlefske seine Frau in den Arm nimmt, verschwindet sie fast darin. Sein Körper ist noch immer felsig und Irmgard noch immer anmutig, dank der Gymnastik. Doch am 21. März 2014 brauchte er, damals 78 Jahre alt, ihren Halt. Es war der Tag des Auszugs. Weg vom Hügel, raus aus der Thomas-Mann-Straße, zurück nach Berlin. Am Straßenrand, zehn Meter den Weg mit den Waschbetonplatten herunter, wartete bereits der Umzugswagen. 69 Kisten. Die Chippendale-Möbel mussten sie auseinanderschrauben. Die Nachbarin verteilte Buletten an die Umzugshelfer, dann stiegen sie in den Golf. Zurück zur Tochter, die sich kümmern kann, im Fall der Fälle. In Bad Eilsen ins Altersheim, das wollten sie beide nicht, dafür waren sie noch viel zu fit.

Ich verlasse die Andlefskes – „nächstes Mal nehmen Sie uns aber mit!“ –, besteige in Grunewald die S-Bahn, klappe meinen Laptop auf, streife die Kopfhörer über die Ohren und beginne, unser Gespräch abzutippen. Neben mir eine Rentnerin: „Was schreiben Sie denn da, einen Liebesbrief?“ – „So ähnlich“, sage ich, dann wird aus den Ästen hinter den Fenstern wieder Backstein und schließlich Glas und Stahl.

Am Abend klingelt mein Telefon. Es ist Günter Andlefske. „Ich habe etwas vergessen“, sagt er. „Wir werden noch mal zurückkehren.“ Ein Platz im Ruheforst von Bückeburg, dem Gräberfeld am Hang des Harrls, sei bereits reserviert.

Dieser Text erschien zunächst gedruckt am 19. November 2016 in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.

Lisa McMinn

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