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Nachruf auf Eveline Hütter (Geb. 1928): Haltung!

Sie war die Chefin, es ging ihnen gut. Doch jede Saison war unsicher in ihrer Branche. Es konnte immer anders kommen.

Jetzt hab’ ich nie wieder Angst im Leben“, schwor sie ihrem Vater, als die Russen den Keller verließen. Sie hatte die Bombennächte überstanden, den Hunger, den Wahnsinn des Krieges: „An jeder Laterne hing ein Deserteur, junge Kerle, blaues Gesicht, die Zunge raus.“ Im Alter sprach sie immer wieder davon, vom Tod ihrer Schulkameraden, die als Flakhelfer verheizt wurden, von Peter, ihrer ersten Liebe, der als „Halbjude“ zur Zwangsarbeit abkommandiert worden war und nach dem Kriegsende die Stadt verließ.

Sie schwärmte von der Befreiung und der Zeit danach, als der Rock ’n’ Roll allen Beine machte und sie wieder unbeschwert tanzen konnte. Als sich die Grenzen öffneten und sie mit einer Freundin Anfang der 50er Jahre nach Italien fuhr, nur sie beide. Sie verliebte sich in Renato aus Rimini und kleidete sich so bunt, wie es nur ging, denn das Leben war wieder schön. Sie war eine Frau, die von vielen angehimmelt wurde, konnte gut und schlecht aussehende Männer sehr wohl unterscheiden, aber ihr erster Ehemann erwies sich als Fehlgriff, wie sie schnell erkannte. Er war nicht gut zu ihr, also verließ sie ihn, auch wenn sie einen hohen Preis dafür zahlen musste. Ihr wurde das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter entzogen. Sie verliebte sich neu, in einen viel jüngeren Mann, heiratete ihn, brachte eine Tochter zur Welt, ertrug den Spott und die Schmähungen, selbst die Abwendung ihres eigenen Bruders.

Als Eveline in die kleine Firma ihres neuen Mannes einstieg, hatte sie schnell alles im Griff. Sie fing als Buchhalterin in der Schöneberger Gürtelproduktion „Schmidt von Schmidtseck“ an und zog rasch alles an sich. Sie liebte die Arbeit, denn die Arbeit lenkte von allen Erinnerungen ab. Ärztin hatte sie nicht werden dürfen, ihre Eltern waren dagegen, aber resolutes Handeln war ihr in die Wiege gelegt. Ihre Großmutter hatte Zigarre geraucht, Skat gespielt und lautstark über Goethe diskutiert. Eveline war aus ihrem Holz geschnitzt, souverän, zupackend und sehr geistesgegenwärtig. Als einer Arbeiterin die Fingerkuppe von einer Lederschärfmaschine abgetrennt wurde, legte sie das Stück sofort auf Eis, umwickelte es mit Plastikfolie und gab das Päckchen der Feuerwehr mit. Im Krankenhaus wurde die Kuppe wieder angenäht.

Eveline entschied, und alle parierten. Sie war die Chefin, und sie war es gern, auch äußerlich. Gepflegtes Aussehen war ihr wichtig: Haltung zeigen. Es war ein kleiner Betrieb, jede Saison war unsicher in der Branche „Damenoberbekleidung“. Sie wohnten in keiner Villa, aber in einer anständigen Wohnung, in einer guten Gegend, und immer war die Angst da, unter die Brücken von Neukölln ziehen zu müssen.

Als die Wende kam, war sie für die ganze Branche eine Wende zum Schlechten. Die Produktion im Osten war billiger, und so gingen viele Betriebe in Berlin pleite. Eveline war mit solchen Schicksalswendungen vertraut aus den Romanen und Biografien über die großen Fürstenhäuser, die sie gern las. Anna Karenina war es letztlich schlechter ergangen. Eveline hingegen wahrte Haltung, hütete die Meißner Erbschale und ließ Manfred, ihren Mann, die Enttäuschung nicht spüren.

Ihre Liebe hielt bis zuletzt. Schließlich konnte sie auch mit weniger sehr gut auskommen. Ihr Leben blieb bunt, erst dank des apricotfarbenen Zwergpudels Tini, dann dank seines Nachfolgers Petit. Sie lernte Englisch an der Volkshochschule und den Umgang mit Computern, und sie verbrachte viel Zeit mit ihrem Enkelkind, das sich im Gegensatz zu ihren Töchtern für rosa Kleider begeistern ließ. „Was dich nicht hindern darf, deinen Abschluss zu machen!“

Wenn sie etwas wissen wollte, war sie immer noch sehr nachdrücklich. Sie hörte, was sie hören wollte. Herrisch war sie nicht, aber selbstbewusst. Lebensfreude ist kein Geschenk, sondern eine Frage der Zähigkeit. Sie wollte jung bleiben und ewig leben. Die Chancen standen lange gut, bis sie dann mit 85 zugab: „Ich werde alt.“ – „Du bist alt“, bemerkte ihre Tochter sachlich. „Ja“, gab sie ungerührt zu, „aber erst jetzt merke ich es.“

Sie war ein wenig erbost darüber, dass der Körper nicht mehr so wollte wie der Geist. Ansonsten verschwendete sie keine weiteren Gedanken an ihr Ende. „Dann wäre ich ja tot.“ Am letzten Tag fragte ihre Tochter die Dahindämmernde: „Weißt du, wo du bist?“ – „Nicht in Rimini“, antwortete Eveline wahrheitsgemäß, aber ansonsten war alles gut und ganz nach ihrem Willen. Denn das war das Letzte, was sie sich vom Leben gewünscht hatte: einen schönen Tod und eine ordentliche Beerdigung, „nicht zu popelig“.

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