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Georgen-Parochial-Friedhof II an der Landsberger Allee in Berlin-Friedrichshain.

© Doris Spiekermann-Klaas

Heinz Freitag (Geb. 1941): Auf der Suche nach dem unverfälschten Ton

Was ihm im Privaten nicht immer glückte, der einvernehmliche Dialog, das gelang ihm als Regisseur.

Der kleine Junge stand auf einer der Spandauer Brücken. Er wartete auf den Transportkahn der Brauerei. Sein Vater hatte versprochen, ihn an Bord zu nehmen. Das Schiff kam, der Junge winkte, vergeblich. Sein Vater hatte ihn vergessen. Er war ein herzloser Mann, hart zu seiner Frau, zu seiner Tochter, zu seinem Sohn. Aber Heinz gelang die Flucht. In den Gärten und Wiesen Spandaus war er der Herrscher in seinem eigenen Reich. Da stand die Königin unter seinem persönlichen Schutz, und die Schwester würde einen Prinzen heiraten dürfen, und die Brotsuppe daheim duftete nach den Gewürzen Asiens.

Auf dem Gymnasium blieb er allein mit sich, den „30-Pfennig-,Tarzan‘-Schmökern“ und Shakespeare, der seinem Talent zur Nachäfferei den Schubs Richtung Schauspielschule gab. „Man wird Schauspieler“, gestand er, „um all das zu erleben, was man als Kind nie erleben durfte.“ Das Problem dabei: Das Drehbuch schreiben andere. Heinz Freitag hingegen ließ sich ungern etwas sagen. Also wechselte er das Fach und das Land. Er ging nach Afrika, schrieb Drehbücher nach Werken des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe und begriff, dass die Welt ganz anders ist als in unseren Träumen.

Nach seiner Rückkehr versuchte er den Irrsinn in Worte zu fassen. Er schrieb „anfallsweise Krimis, Liebesromane und nicht zuletzt blödsinnige Gedichte“. Die schönsten brachte er gemeinsam mit Hugo Egon Balder in Sangesform, Lieder von hervorragender Albernheit wie der Titel der gleichnamigen LP „Elvira hol dein Strumpfband ab“, auf der sich Evergreens finden wie „Zwei Buletten und eine Gitarre“ oder das programmatisch gestimmte „Was Liebe ist, das weiß ich nicht“.

Für Yashi hatte er immer Zeit

Blödeln offenbart seinen tieferen Sinn nur dem, der es praktiziert. Insofern stand Heinz mit seinem Humor nicht selten allein. Er war schon 47 Jahre alt, als er Jie Zhao traf, die Frau, die ihn davon überzeugte, dass auch er zur Zweisamkeit taugte. Obwohl er ihr als ersten Beweis seiner Zuneigung frische Knoblauchknollen darreichte, was sie wiederum so blumig zu deuten verstand, wie es gemeint war. Eine Romanze nach Art seines Lieblingsfilms, „Der Elefantenmensch“, den David Lynch ihm zur Synchronisation anvertraut hatte: Ein Mensch, der sich unrettbar deformiert glaubt, wird von der Liebe erweckt.

Als seine Tochter Yashi geboren wurde, war das Glück vollkommen, denn ihr durfte er sich ganz und gar als Vater öffnen. Für Yashi hatte er immer Zeit und vor allem Geduld bei allem, was ein Kind zum Fortkommen im Leben braucht: Fahrradfahren, Schwimmen und ein Bilderbuch der schönsten Geschichten. Er hat sie ihr vorgelesen, und die allerschönsten hat er gemeinsam mit ihr erfunden. Frei nach Janosch fabulierten sie allabendlich die Abenteuer von Trossi von Alba und Trossine von Alban, bis alles ein glückliches Ende fand.

Seine Arbeit machte ihn stolz

Nur ins Kino ist er nie mit ihr gegangen. Dabei war der Film sein Leben, denn was ihm im Privaten nicht immer glückte, der einvernehmliche Dialog, das gelang ihm als Regisseur: Er war einer der besten und erfolgreichsten Synchronregisseure des Landes. Hunderte Filme aus allen Sprachen, für die er genau die deutschen Worte fand, die man als Zuschauer glaubte von den Lippen der Darsteller ablesen zu können. Er erhielt Preise für seine herausragende Synchronregie, aber er ging nie zu den Preisverleihungen.

Er war stolz auf seine Arbeit, vor allem wenn er seinen Namen, was selten genug der Fall war, im Abspann lesen konnte wie zuletzt bei „Loving Vincent“. Noch wichtiger war ihm allerdings, dass er sich nicht dem Diktat des hektischen Produzierens beugte, sondern sich und vor allem den Sprechern immer die Zeit gab, gute Arbeit zu leisten. Wenn Heiserkeit drohte, reichte er ihnen Ingwerscheibchen, die es unter die Zunge zu legen galt. Er wollte den ehrlichen, den unverfälschten Ton finden. Vielleicht musste er deswegen nicht ins Kino gehen: Er hat die Filme mehr gehört als gesehen.

Er wollte, dass die schönen Bilder überdauern

Bei der Arbeit fiel ihm das Zuhören leicht. Im Privaten zog er sich zunehmend zurück. Er hatte die schöne Wohnung mit Blick auf den Hubertussee, die er nicht verlassen wollte, obwohl sie für die Familie zu klein war. Er konnte sehr stur sein, weil er glaubte, alles besser zu wissen, schließlich hatte er viele Bücher gelesen. Ein wenig wurde er im Alter wieder zu dem einsamen Kind, das er einst gewesen war. Er hatte seine Rituale, zu denen der Gang ins „KaDeWe“ gehörte, und ins „Wiener Café“, wo er Zeitung las, und Kaffee zum Croissant trank.

Er machte sich so seine Gedanken über die Welt, die sich zuweilen gegen ihn verschworen zu haben schien und gegen den gesunden Menschenverstand sowieso. Aber er blieb Jie auf seine Weise treu, und er liebte seine Tochter über alles, und er erzählte von ihr, wann immer sich die Gelegenheit ergab, denn sie ist die Zeugin seiner ganz privaten Erfolgsgeschichte: Wie aus einem unglücklichen Sohn ein glücklicher Vater wurde. Er wollte weiterleben in Yashi; er wollte, dass die schönen Bilder überdauern: ein Vater, der die Tochter im Arm trägt, bis ihre Tränen versiegen. Der gemeinsam mit ihr durch den Regen fährt, weil die Pfützen so schön spritzen. Der mit ihr im Wohnzimmer Fußball spielt, auch wenn die Vase zu Bruch geht, und der ihr auf immer neuen geheimen Wegen ein Gummibärchen in die Brotdose schmuggelt, das ihr in der Schule ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Das Beste, was ein Vater für sein Kind tun kann: da sein. Das Zweitbeste: ihm so viele schöne Erinnerungen wie möglich mit auf den Weg geben.

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