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Berlin: Hertha Fiedler (Geb. 1923)

Man ging zu ihr, um das Leben zu spüren.

Es gibt Kneipen, in die geht man, um das Leben zu vergessen. Zu Hertha Fiedler ging man, um das Leben zu spüren. In der „Kleinen Weltlaterne“ konnte sich der Kreuzberger Stammgast wie ein Teil des ganz großen Ganzen fühlen, beim frisch Gezapften neben Gästen wie Henry Miller, Friedensreich Hundertwasser oder Hildegard Knef. Die alleinstehende Mutter aus Karl-Marx-Stadt hatte im West-Berlin der sechziger Jahre das geschafft, wovon jeder Wirt nur träumen kann: Ihr Laden wurde zum verqualmten Geheimtipp, der so geheim nie war. Auf Barhockern saßen hier Arbeiter neben Uniprofessoren, teilten sich arme Künstler den Aschenbecher mit reichen Promis. Die Wirtin warf Andreas Baader raus, lange bevor er Staatsfeind wurde. Bei ihr hat er nur gepöbelt.

Das Erfolgsgeheimnis der Gaststätte in der Kohlfurter Straße hieß – Hertha Fiedler. Das Arbeiten im Lokal hatte Hertha, damals noch Rosenkranz, von klein auf gelernt. Mit 17 Jahren, nach dem Tod der Mutter, übernahm sie deren Restaurant in Chemnitz. Der Vater war schon lange tot. „Vielleicht gefallen, im Krieg“, sagt Hertha Fiedlers Sohn, der 61-jährige Bernd Fiedler. Was er noch weiß: Das Leben in der DDR gefiel Hertha nicht. Ihr erster Ehemann war nach der Trennung in den Westen abgehauen, und auch sie zog es dahin. 1955, sie war 32 Jahre alt, nahm sie Bernd an die Hand und fuhr mit ihm nach West-Berlin. Und sehr bald arbeitete sie wieder in einer Gaststätte.

Im Jahr 1958 übernahm sie eine Kindl-Kneipe in Kreuzberg mitsamt Holzeinrichtung und Arbeiterkundschaft. Ein gut aussehender Stammgast hieß Ingo Fiedler, fünf Jahre jünger als sie, mit blonder Tolle. Nach einem Jahr heirateten die beiden und ergänzten sich sehr gut: die Lebefrau mit Sinn fürs Geschäft und der ruhige Philosophiestudent mit Szenekenntnis. Zusammen standen sie hinterm Tresen, und 1961 kam Ingo auf die Idee, den Laden in „Kleine Weltlaterne“ umzubenennen, nach dem Roman von Peter Bamm.

Ihre Kneipe machten sie zur ständigen Galerie für unbekannte Künstler, etliche darunter, die noch bekannt werden sollten. Die energische Wirtin mit dem sächsischen Akzent hatte ein Herz für die Künstler und Studenten. Wer Bier oder Bulette mal nicht bezahlen konnte, spendete eben ein Bild. Sie lud auch Musiker und Schriftsteller ein, Günter Grass etwa. In den siebziger Jahren ging sie regelmäßig zum Promi-Stammtisch von Schultheiss, wo sich die Berliner High Society auf Brauereikosten amüsierte. Sie aber kam nicht zum Feiern, sie kam, um Künstler zu finden, die bei ihr auftraten. Als das Viertel um die Kohlfurter Straße Sanierungsgebiet wurde, Mitte der Achtziger, zog der Laden um in die Nestorstraße, Wilmersdorf. Geändert hat sich kaum etwas, auch nicht, seit Sohn Bernd ihn übernommen hat. Die Mutter schaute in den Neunzigern noch ab und zu vorbei und trank am liebsten Calvados mit Apfelsaft. Zum letzten Mal feierte sie hier ihren 80. Geburtstag. Das war vor sieben Jahren.

Trotzdem ist die Kneipenmutter weiter Bestandteil des Etablissements. Eine Wand im Flur ist über und über mit Schwarzweißfotos beklebt, alle mit demselben Motiv: Hertha plus Prominenz. „Hier mit Karl Dall“, sagt Bernd Fiedler und zeigt auf den Mann mit dem verkniffenen Auge, „hier der junge Dieter Hallervorden!“ Hertha, die stämmige Frau mit geschminkten Augen, geblümtem Kleid und hochgesteckten Haaren, lacht und umarmt die Gäste, und auf einem Bild nimmt sie das Bundesverdienstkreuz entgegen, das sie für ihre Bemühungen um die Kunst erhalten hat.

Vor zwei Jahren musste sie ins Krankenhaus: ein Gehirntumor. Vermutlich wuchs er schon seit 20 Jahren. Ingo, ihr Mann, ließ sie zu Hause am Wannsee pflegen und blieb an ihrer Seite bis zum letzten Tag. „Es ist so schade, dass sie das 50-jährige Jubiläum der Weltlaterne verpasst“, sagt ihr Sohn. Er kann sich nicht an viele Details aus ihrem Leben erinnern, aber das ist nicht so wichtig, denn: „Die Kneipe war ihr Leben.“

Ferda Ataman

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