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Die Aufnahme mit Haus Vaterland und der links vorbei führenden Saarlandstraße, der heutigen Stresemannstraße, entstand 1935.

© imago/Arkivi

Neues Buch über Haus Vaterland: Erinnerungen an den einst größten Vergnügungspalast Berlins

Die Historikerin Vanessa Conze erinnert an den verlorenen Glanz von Haus Vaterland – und gewährt Einblick die Vorgeschichte und das Leben der Beteiligten.

Von Andreas Austilat

Nicht zufrieden war der Architekturkritiker des Tagesspiegels mit dieser Ecke: Köthener/Stresemannstraße in Berlin-Kreuzberg, ein paar Schritte vom Potsdamer Platz entfernt. Gemeint war ein Neubau, der sich seit 2002 hier erhebt, halbrund, mit viel Glas und rötlichem Sandstein verkleidet. Die Wölbung war eine Reminiszenz an jenes historische Gebäude, das vormals hier stand: Haus Vaterland.

Misslungen befand der Kritiker und meinte die äußere Gestalt. Ans Innere erinnerte sich 2002 sowieso kaum noch einer. Der einst größte Vergnügungspalast der Stadt war im Dunkel der Stadtgeschichte versunken.

Daraus holt Vanessa Conze den Bau nun kenntnisreich in einem großzügig bebilderten Band hervor (Vanessa Conze: Haus Vaterland. Der große Vergnügungspalast im Herzen Berlins. Elsengold-Verlag, Berlin. 144 Seiten, 100 Abbildungen, 25 Euro).

Haus Vaterland, das klingt nach Parademarsch und schnarrendem Patriotismus. Tatsächlich handelte es sich um ein polyglottes Glitzer-Unternehmen, das vor beinahe 100 Jahren dem amüsierwilligen Publikum nicht weniger versprach als die ganze Welt unter einem Dach, vom Rheinland bis nach Japan, von einer Wiener Heurigen-Kneipe bis in den Wilden Westen.

Dafür scheuten die Betreiber keinen Aufwand. Exotische Speisen wurden in acht Restaurants aufgetragen – oder wenigstens das, was man in einer Zeit, die gerade erst Curry und Paprika für sich entdeckte, dafür hielt. Über dem sechs Meter tiefen Rheinpanorama brach stündlich ein Gewitter aus.

Exotische Speisen in acht Restaurants und ein 1500-Plätze-Kino

Auf anderen der vier Etagen servierten Schwarze als Kellner Kaffee im Orient-Dekor oder Japanerinnen Tee, spielte in der Wild West Bar nicht ganz stilecht die Jazzkapelle. Eventgastronomie, das war hochmodern, in diesem Ausmaß beispiellos. Hinzu kam ein 1500-Plätze-Kino, und getanzt wurde auch, auf verschiedenen Dancefloors, wie man heute sagen würde.

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Bei der Fertigstellung des Hause 1912 befand sich hier noch das Café Picadilly. Der Name war nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr gewollt. Dann war der Krieg aus, zehrten Revolutionswirren an Nerven und Budgets, und schon schien das Ende unwiderruflich.

Im Hintergrund die Berge. Dieses Restaurant war ganz im bayerischen Stil eingerichtet. Die Löwenembleme an der Stuhllehne zeigten, welches Getränk dort bevorzugt ausgeschenkt wurde.
Im Hintergrund die Berge. Dieses Restaurant war ganz im bayerischen Stil eingerichtet. Die Löwenembleme an der Stuhllehne zeigten, welches Getränk dort bevorzugt ausgeschenkt wurde.

© Ullstein Bild via Getty Images

Drei Dinge ermöglichten den Neustart 1928: Die Familie Kempinski als risikobereiter Investor, eine freigewordene Location in zentraler Lage, und Leo Kronau, ein Mann, der in Vergnügungsparks rund um den Globus, vom Wiener Prater bis zum New Yorker Coney Island, Konzepte der neuen Eventkultur studiert und selbst praktiziert hatte – zuletzt als Geschäftsführer im Berliner Luna-Park, einer Art Dauerrummel in Halensee.

Natürlich brauchte es noch ein paar Ingredienzen mehr. Die wirtschaftliche Erholung etwa, die der Weimarer Republik ein paar Goldene Jahre bescherte. Eine Liberalisierung der Gesellschaft, die es Frauen erlaubte, auch allein auszugehen. Und mit den Angestellten eine neue soziale Klasse, die mit dem 1918 gesetzlich gesicherten Acht-Stunden-Tag plötzlich so etwas wie Freizeit kannte.

Eine Tasse Kaffee oder lieber Kaviar?

Von der Arbeiterschaft mit ihren Sport- und Kulturvereinen aber wollten sie sich absetzen, wenn auch mit schmalerem Budget als das imitierte Großbürgertum. Ein Wunsch, dem die Kempinskis gern entgegenkamen. Im Haus Vaterland gab es auch Kaviar, aber man konnte sich notfalls den ganzen Abend an einer Tasse Kaffee festhalten oder eine Bratwurst für 50 Pfennige bestellen.

Vanessa Conze ist Historikerin, eines ihrer Spezialgebiete ist die Erforschung der Freizeitkultur. Sie gewährt nicht nur einen Einblick in diesen Vergnügungspalast im XXL-Format, sondern auch in seine Vorgeschichte und das Leben der Beteiligten, vom Inspirator bis zum Kellner. Einer der Schwarzen, Bayume Mohamed Husen, ist den Lesern der Gereon-Rath-Romane des Autors Volker Kutscher als Randfigur in dessen Roman „Die Akte Vaterland“ bekannt.

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Und Vanessa Conze nimmt die zeitgenössische Kritik an der entstehenden Zerstreuungskultur auf. Allen voran Siegfried Kracauer beschrieb das Haus 1930 als „Asyl für die geistig Obdachlosen“, die keine „politische und soziale Heimat“ haben, stattdessen nach Ablenkung vom tristen Büroalltag lechzen. Ein Bedürfnis, das im Haus Vaterland mit den damals modernsten Mitteln befriedigt wurde.

Der Kulissenzauber dieser Kunstwelt wurde in den Feuilletons verspottet, dem Erfolg des Unternehmens tat das keinen Abbruch. Bereits im ersten Jahr kamen eine Million Gäste.

Schnittchen für die Nazi-Parteitage

Erschütterung brachten die Weltwirtschaftskrise und dann die Nazis, die alles Fremde geißelten, schlimmer, verfolgten bis zum Tod. Der Kellner Bayume Mohamed Husen starb 1944 im KZ Sachsenhausen. Der Betrieb der jüdischen Familie Kempinski wurde „arisiert“, ging in die Hände der Aschingers, die in Berlin in den 20er Jahren zu den Wegbereitern der Systemgastronomie gehörten und richtig reich wurden, als sie die Reichsparteitage der Nazis mit Schnittchen belieferten. Walter Unger aber, der letzte aus der Familie Kempinski, der in Berlin geblieben war, wurde in Auschwitz ermordet.

Das Haus Vaterland bestand unter neuer Führung und eingedeutschtem Programm in der Nazizeit weiter, bis zum Bombenkrieg. Nach 1945 wurde in Ost-Berlin selbst die Ruine noch bespielt, das Aus brachte ein Brand am Abend des Volksaufstandes 1953. Die DDR verkaufte das Areal in Grenznähe schließlich an West-Berlin, wo der immer noch stattliche Rest 1976 abgetragen wurde, um einer Stadtautobahn zu weichen, die nie gebaut wurde.

Vanessa Conze aber kommt das Verdienst zu, das Haus wenigstens in Wort und Bild wiederentdeckt zu haben.

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