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Mindestens ein Kind pro Tag stirbt durch die Hände seiner Eltern oder den Lebenspartner. Im Fall Zoe hatten viele staatliche und andere Stellen die Möglichkeit, Verdacht zu schöpfen

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Update

Kindesmisshandlung in Berlin: Hohe Haftstrafen für die Eltern von Zoe

Ein totes Kind und zwei traumatisierte Geschwister: Fünf Monate hat der Prozess im Fall Zoe gedauert, sehr viele Zeugen wurden gehört. Nun hat der Richter das Urteil verkündet.

Nach einem langen Indizienprozess, der über fünf Monate dauerte, hat am Freitag der Vorsitzende Richter das Urteil im Fall Zoe am Landgericht in Moabit im Saal 621 verkündet. Der Lebensgefährte muss wegen Mordes durch Unterlassen und Misshandlung von Schutzbefohlenen für zwölf Jahre hinter Gitter, die Mutter des Mädchens für Mord durch Unterlassen für acht Jahre. Die Staatsanwaltschaft hatte den Lebensgefährten Matthieu K. wegen Mordes angeklagt und die Mutter von Zoe, Melanie S., wegen Mordes durch Unterlassen.

Der Richter folgte der Staatsanwaltschaft nicht, die für beide lebenslänglich gefordert hatte, und begründete die mildere Strafe mit mehreren Punkten: Beide seien nicht vorbestraft, beide haben selbst in ihrem Leben einiges durchgemacht, und am Ende habe Matthieu K. immerhin versucht, noch etwas zu tun, um das Kind zu retten, auch wenn es bereits zu spät war. Der Schwurgerichtsvorsitzende sagte zudem, dass das passive Verhalten der Angeklagten nicht mit einem aktiven Tun, also einem direkten Töten des Kindes, gleichzusetzen sei. Allerdings betonte der Richter, dass auch er davon ausgeht, wie die Staatsanwältin Heike Hagedorn, dass beide sozusagen als Einheit versucht haben, die Tat zu vertuschen. In seiner Urteilsbegründung sprach der Richter von "einem System, das auf Lüge und Täuschung ausgerichtet war". Die Tat sei "roh und brutal" gewesen.

Die Angeklagten hatten monatelang geschwiegen

Am Anfang stand ein Eingeständnis, und allein das machte die Dimension des Falles deutlich: Peter Faust, der Richter, sagte am Freitag vor der Urteilsbegründung: „Das ist ein schlimmer Fall, für jeden, auch für Leute, die ständig mit Tötungsdelikten zu tun haben, wenn ein so kleiner Mensch so sinnfrei sein Leben verliert.“ Matthieu K. saß, wie im gesamten Prozess, auch an diesem Freitagmittag unbewegt und scheinbar unberührt im Saal 621, Melanie S. verdrückte sich ein paar Tränen, aber auch sie saß stoisch wie immer vor dem Richter.

Auch vor zweieinhalb Jahren, am 28. Januar 2012, hat Melanie S. zu ruhig und offensichtlich unberührt die Dinge vor sich gehen lassen, obwohl sie doch Mutter von Zoe und drei weiteren Kindern ist. An jenem Samstag, davon war das Gericht überzeugt, sei es zu der schwerwiegenden Tat gekommen, die letztlich den Tot der 33 Monate alten Zoe ausgelöst hat. Nach Auffassung des Gerichts muss K. Zoe im Badezimmer entweder mit der Faust geschlagen oder ihr einen Tritt verpasst haben, so dass die Darmwand riss und der Inhalt in den Bauchraum austrat. Vor allem die Ausführungen der medizinischen Sachverständigen, aber auch die Aussage der Mutter bei der Polizei, führte zu dieser Schlussfolgerung. S. hatte K. im Verhör belastet, dies aber vor Gericht nicht wiederholt.

60 Stunden nach der Misshandlung starb das Mädchen an einer akuten Bauchentzündung, die den Körper kollabieren ließ. Es war eine Verletzung, die, wäre sie zu einem Arzt gekommen, medizinisch kein Problem dargestellt hätte.

Der Angeklagte verzieht keine Miene

Auch als der Richter K. anschaut und sagt, er müsse und er habe Zoe geschlagen und somit misshandelt, verzieht der Angeklagte keine Miene. Das sei eine „üble, rohe Misshandlung“ gewesen. Zudem habe K. auch dem älteren Bruder Zoes im Bad den Arm gebrochen. Der Angeklagte hatte erklärt, der Bruder sei ihm ausgerutscht, und der Bruch müsse durch zu festes Zupacken zustande gekommen sein.

„Diese Auffassung teilen wir nicht“, sagte der Richter. Die Haftstrafe bei K. setzt sich dementsprechend zusammen aus Misshandlung von Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassen in Tatmehrheit. Der „brutale“ Schlag oder Tritt war das eine, aber der Versuch, die Tat zu vertuschen, kommt hinzu. Beide Angeklagte hätten, sagte der Richter, „ein System“ errichtet, dass auf „Lüge und Täuschung“ beruhte.

Zoe, das haben mehrere Gutachter erklärt, müsse spätestens ab Sonntag große Schmerzen bekommen haben. Aber auch am Montag, als das Kind sich nach Aussage von K. mindestens sieben Mal übergeben musste, gingen die Eltern nicht zum Arzt. Sie taten nur so, als ob sie gingen. Zwei Sozialarbeiterinnen des Freien Trägers Independent Living waren an diesem 31. Januar noch bei der Familie. Sie forderten sie zum Arztbesuch auf, aber sie begleiteten die Familie nicht, sondern vertrauten ihr. Glaubten, was beide sagten, dass Zoe nur einen Magen-Darm-Infekt hätte.

Das Verfahren gegen die Familienhelferinnen wurde eingestellt, doch, wie berichtet, wird die Staatsanwaltschaft es wieder aufnehmen, weil zu viele „Fragen offen sind“. Auch der Richter machte seine Anmerkungen zum Verhalten der Sozialarbeiter. Die Aussagen „der Frauen haben nicht überzeugt“, sie wirkten eher „wie ein schlechter Witz“, dabei müsse man entweder mit „Blindheit geschlagen sein oder nicht hingeguckt haben“, um Zoes Leiden übersehen zu können.

Ausgeliefert. Hat Matthieu K. die Verletzlichkeit der Kinder zum Machtmissbrauch getrieben?
Ausgeliefert. Hat Matthieu K. die Verletzlichkeit der Kinder zum Machtmissbrauch getrieben?

© picture alliance / dpa

Insgesamt haben vier Sozialarbeiter die Familie intensiv betreut, niemand will bemerkt haben, dass die Kinder offensichtlich misshandelt wurden. Alle sagten vor Gericht aus, mit den Kindern sei „liebevoll“ umgegangen worden. 40 Hämatome fanden die Gerichtsmediziner an Zoes Körper, weitere 15 an dem Körper ihres Bruders. „Alle Kinder müssen misshandelt worden sein“, sagte der Richter. Besonders beeindruckt hat das Gericht die Aussage der Pflegemutter, zu der zwei der drei Geschwister gekommen sind. Sie hatte vor Gericht erzählt, dass die Kinder entwicklungsgestört und traumatisiert sind, dass sie bis heute Angst vor warmen Wasser und dem Bad hätten und sich nicht von einem Mann waschen lassen. Das Badezimmer – es war der Ort der Züchtigung.

Die beiden Angeklagten hatten zuvor in den letzten Monaten immer geschwiegen. Die Staatsanwältin hatte sich in ihrem Plädoyer auch darüber "verwundert" gezeigt und hatte auf Gefühlskälte geschlossen, eine andere Interpretation sei schwer vorstellbar. Am vorletzten Prozesstag allerdings, nachdem der letzte Zeuge gehört und die Plädoyers gehalten waren, hatten beide doch noch eine jeweils kurze Erklärung verlesen.

Matthieu K. hatte unter anderen gesagt, er sei kein "brutaler Schläger" und er habe Zoe auch nicht ermordet, sie werde immer in "meinem Herzen" sein. Er hatte dann ausgeführt, dass er sich gewünscht hätte, diese Familie "vor der Obdachlosigkeit zu retten", aber das sei ihm nicht gelungen. Seine Lebensgefährtin Melanie sei seine große Liebe, "aber auch meine große Enttäuschung" gewesen.

Der Täter, nur ein tolpatschiger Opfertyp?

Die Mutter hatte ebenfalls beteuert, sie habe ihren Kindern niemals etwas antun können, und sie hatte betont, wie sehr sie ihre Kinder vermissen würde. Ein Schuldeingeständnis war von niemandem zu hören. Die Verteidigung hatte bis zum Schluss versucht, Matthieu K. als einen, wie sie selbst sagte "tolpatschigen, aber gutmütigen" Kerl darzustellen, der immer schon in seinem Leben "selbst ein Opfertyp" gewesen sei. Die Verteidiger hatten auf "fahrlässige Tötung" plädiert und hatten ein Strafmaß von sieben Monaten auf Bewährung vorgeschlagen.

Die Verteidigung von Melanie S. hatte großes Unverständnis darüber gezeigt, dass die Mandantin überhaupt wegen Mordes angeklagt wurde. Das sei zu keiner Zeit während des Prozesses auch nur ansatzweise belegt worden. Seine Mandantin sei sicherlich keine gute Mutter, sagte der Verteidiger wörtlich, aber "wir reden hier über Mord", und damit habe sie nichts zu tun. Er sollte irren.

Ein Verfahren voller Fehler

Bei den Ermittlungen und dem anschließenden Prozess sind allerdings in diesem Fall von allen Seiten Fehler gemacht worden. Es fing damit an, dass die Kriminalpolizei, die zunächst vor Ort war, nicht sofort das Sonderkommissariat für Kindesmissbrauch einschaltete, so dass erst mit Verzögerung über Misshandlung nachgedacht wurde. Das Verfahren gegen die Sozialarbeiter, die die Familie eng betreut hatten, wurde schnell eingestellt, obwohl viele wichtige Zeugen gar nicht gehört worden waren. Erst nach Recherchen des Tagesspiegels kam heraus, dass noch ein weiterer Sozialarbeiter des Jugendamts involviert war. Auch die Polizei machte Flüchtigkeitsfehler, etwa belehrte sie die unter Verdacht stehende Melanie S. bei der zweiten Verhörung nicht erneut über ihre Rechte. Die Verteidigung sah darin eine "klare Verletzung der Rechtsnorm". Der Richter sah dies anders.

Die Autoren von "Deutschland misshandelt seine Kinder", Michael Tsokos und Saskia Guddat. Unterstützt wurden beide von dem Schriftsteller und Ghostwriter Andreas Gößling.
Die Autoren von "Deutschland misshandelt seine Kinder", Michael Tsokos und Saskia Etzoldt. Sie schildern in ihrem Buch auch den Fall Zoe, deshalb wurde Etzold im Prozess als Gutachterin für befangen erklärt.

© Promo/Droemer

Noch schlimmer war, dass die Rechtsmediziner der Charité, Michael Tsokos und Saskia Etzold, den Fall in ihrem Buch "Deutschland misshandelt ihre Kinder" im Detail aufgearbeitet hatten, obwohl der Gerichtsprozess noch lief. Dies führte dazu, dass die Verteidigung erfolgreich einen Befangenheitsantrag gegen die Gutachterin Etzold durchbrachte, und sie fortan nur noch als einfache Zeugin gehört werden durfte. Vermutlich ist der Fall auch nach diesem Urteil nicht abgeschlossen, denn die Staatsanwaltschaft hatte bereits im Tagesspiegel angekündigt, das eingestellte Verfahren gegen die Familienhelfer wieder aufnehmen zu wollen.

Derweil wird demnächst der älteste Bruder Zoes mit sieben Jahren in die Schule kommen. Er trägt noch immer Windeln, und er wird dann jeden Tag von einem Sozialarbeiter begleitet werden müssen.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel. Er hat den Fall Zoe von Beginn an verfolgt.

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